Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
ihr Zimmer kam. Beinahe wäre sie darauf getreten. Zuerst zögerte sie kurz, weil sie dachte, es sei ein heruntergefallener Papierschnipsel wie die, die sie als Lesezeichen benutzte. Doch als sie sich bückte, um ihn aufzuheben, sah sie, dass es ein gefaltetes Rechteck war – ein weiterer Brief. Neugier und Furcht waren das Erste, was sie empfand. Sie faltete den Brief mit zitternden Fingern auseinander und ging damit ans Fenster, um ihn im schwindenden Tageslicht zu lesen.
Meine liebe Emma,
wie schön ist es doch, wieder unter demselben Dach mit dir zu leben! Es erinnert mich an die Tage im Pensionat, als wir beide draußen saßen und zu den Sternen aufblickten und du mir ihre Namen nanntest, während ich dich ansah. Erinnerst du dich noch, wie ich einmal spätabends zu dir ins Zimmer kam? Und was wir da taten? Ich denke daran, während ich diesen Brief schreibe, den ich in wenigen Minuten unter deiner Tür durchschieben werde. Wenn du dies liest, weißt du, dass ich an dich denke. Und wenn du mich das nächste Mal siehst, bestätige mir bitte, dass du den Brief bekommen hast, indem du dich am Ohrläppchen zupfst. An deinem anbetungswürdigen Ohrläppchen.
W.
Emma spürte, wie sie rot wurde. W … für Weston? Welcher Weston? Sie und Phillip hatten zusammen Astronomie gelernt, das stimmte.Ihr Zimmer hatte er jedoch nur ein einziges Mal betreten, als er ihr an ihrem Geburtstag Blumen hineingelegt hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Henry oder Phillip etwas so Anzügliches schrieben. Wahrscheinlich waren es Julian oder Rowan, die ihr einen Streich spielten. Doch woher wussten sie von den Astronomiestunden?
Sie versuchte, die Handschrift ganz unvoreingenommen zu betrachten. Es schien die gleiche zu sein wie beim ersten Brief. Sie hatte Phillips oder Henrys Handschrift seit Jahren nicht gesehen; Julians und Rowans hingegen kannte sie gut, von den Klausuren und Aufsätzen.
Die Schrift des Briefes sah eigentlich nicht nach einem von ihnen aus, dachte sie. Vielleicht hatte der Schreiber sie verstellt. Trotzdem kam sie ihr irgendwie bekannt vor. Woran lag das?
Sie betrachtete die einzelnen Buchstaben, ihre Form. Die kleinen »T« hatten große Aufstriche und außergewöhnlich lange Querstriche, die die beiden Buchstaben rechts daneben gleich mit durchstrichen. Doch das war eigentlich nichts Ungewöhnliches.
Sie beschloss, den Brief am nächsten Morgen mit hinauf ins Schulzimmer zu nehmen und die Handschrift mit den Hausarbeiten zu vergleichen, die dort aufbewahrt wurden. Dann legte sie ihn erst einmal fort und griff zu ihrem Tagebuch.
Heute wurde ein zweiter unerwarteter Brief unter meiner Tür durchgeschoben. Unterschrieben ist er einfach nur mit W. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Der Inhalt ist eigentlich schmeichelhaft, aber sehr dreist. Ich kann mir nicht helfen, ich vermute immer noch einen Streich dahinter. Ein gewisser Weston-Bruder hat mich gelehrt, auch scheinbar freundliche Handlungen seinerseits mit Misstrauen zu betrachten, und eine solche Angewohnheit legt man nur schwer ab.
Dennoch denkt – ja hofft ein kleiner Teil von mir, dass der Brief und die Gefühle, die er beschreibt, aufrichtig sind. Auch ich bin offenbar nicht immun gegen weibliche Eitelkeit. Er erinnert mich an den Brief von Tante Jane, den sie von einem früheren Bewunderer erhalten hat. Ich nehme an, es ist ganz natürlich, dass eine junge Frau (und das bin ichnoch, auch wenn ich nicht mehr in der ersten Blüte der Jugend stehe) sich danach sehnt, wenigstens einmal in ihrem Leben Liebesbriefe zu bekommen. Hingerissen und mit klopfendem Herzen romantische Sätze und poetischen Unsinn zu lesen.
In seinem zweiten Brief erwähnt der Verfasser jedoch eine Gelegenheit, bei der »er« eines Nachts in mein Zimmer in Longstaple gekommen ist, und spricht davon »was wir taten«. Das verwirrt mich. Ich erinnere mich nicht, dass Phillip je nachts in mein Zimmer gekommen wäre. Das hat von den Schülern meines Vaters nur ein Einziger gewagt.
Emma hob ihre Feder und hielt einen Moment inne, während sie an jene seltsame Nacht dachte …
Im Licht des Mondes stand Henry Weston ein paar Zentimeter von ihrem Bett entfernt und starrte auf sie herunter. Sie war natürlich erschrocken, als sie aufwachte und feststellte, dass jemand in ihrem Zimmer war. Und auch als sie Henry Weston erkannte, hatte sie trotzdem noch Angst, denn es war nicht das erste Mal, dass er sich mit Hintergedanken an sie heranmachte.
Was hatte er diesmal
Weitere Kostenlose Bücher