Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
sie besichtigen?«
Emma sah ihn überrascht an. »Sie meinen, hineingehen?«
Er nickte.
»Aber Phillip hat gesagt, das sei zu gefährlich.«
»Es ist auch gefährlich. Jedenfalls, wenn Sie nicht mit den Gezeiten in den verschiedenen Jahreszeiten vertraut und so etwas wie ein Experte sind, was Wettervoraussagen beziehungsweise heraufziehende Stürme betrifft.«
Emma sagte: »Und Sie sind also Experte, sowohl für die Gezeiten als auch für das Wetter?«
Er schürzte die Lippen. »Das bin ich, ja. Und bevor Sie mir jetzt Prahlerei vorwerfen, möchte ich Sie daran erinnern, dass ich mein ganzes Leben hier verbracht habe, abgesehen von den paar Jahren in Longstaple und in Oxford.«
»Phillip hat auch immer hier gelebt, aber er hat sich nie hinuntergewagt, soweit ich weiß.«
»Ich glaube, einmal war er auch dort, im Zuge eines Jugendstreichs, aber ja, er war dem Wasser gegenüber immer misstrauisch und ich mache ihm keinen Vorwurf deswegen. Phillip hat wenig Interesse an der Welt um ihn herum, im Gegensatz zu mir, ich bin ein passionierter Beobachter all dieser Dinge.«
Ja, sie erinnerte sich an sein Interesse, die Bücher, die er gelesen hatte, die Wetterfahne, die er in Longstaple gebaut hatte, das Regenmessgerät, das er in ihrem Garten aufgestellt hatte.
Er machte eine weit ausholende Geste. »Kommen Sie mit hinauf in mein Arbeitszimmer, dann werde ich es Ihnen beweisen.«
Sie schluckte, zögerte, doch dann siegte ihre Neugierde. »Gern.«
Er führte sie in den ersten Stock, den Flur entlang zu einem Zimmer, das sie noch nie betreten hatte, öffnete die Tür und bedeutete ihr, vor ihm einzutreten.
»Bitte gehen Sie vor«, murmelte sie. Sie blieb auf der Schwelle stehen, während er in ein für einen Gentleman eher kleines Kabinett trat, möbliert mit Bücherregalen und dominiert von einem unvorstellbar unordentlichen Schreibtisch.
Er trat an den Schreibtisch – sie hätte ihn erst einmal aufgeräumt, wenn es ihrer wäre – zog ein in rotes Leder gebundenes Notizbuch aus einem der vielen Stapel heraus, schlug es auf und blätterte darin.
»Da ist es ja. Wöchentliche Vorhersagen über Flut und Ebbe, basierend auf früheren Daten und dem bekannten Zyklus. Ich habe einen Jungen aus der Gegend beauftragt, die Hochwassermarken im Hafen festzuhalten, die ich regelmäßig prüfe und daraufhin meine Schätzungen revidiere, wenn es nötig ist. Faktoren wie Springfluten oder Nippfluten beeinflussen die Wasserhöhe zwar zusätzlich, doch, einmal abgesehen von Stürmen, kann ich ziemlich genau errechnen, wann man die Kapelle gefahrlos besichtigen kann.«
Emma trat zögernd an den Schreibtisch. Er drehte das Buch zu ihr herum, sodass sie die Daten und Zeiten einsehen konnte, die in ordentlichen Kolumnen in Schätzungen und Fakten eingeteilt waren. Beeindruckend .
»So.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Gehen wir?«
Emma blinzelte. »Jetzt?«
»Sagten Sie nicht, Sie würden sie gern von innen sehen?«
»Nun … ja. Wenn Sie sicher sind, dass es nicht gefährlich ist.«
»Völlig sicher.« Er zog seine Taschenuhr heraus und prüfte die Uhrzeit. »Jedenfalls in den nächsten vier Stunden.«
Emma folgte ihm durch die Tür und knetete nervös die Hände. »Sollen wir nicht lieber jemandem sagen, wo wir hingehen? Nur für alle Fälle?«
»Die stets vernünftige Miss Smallwood.« Er holte tief Luft und richtete sich auf. »Nein. Sie haben völlig recht. Ich werde meinen Vater informieren und Sie sagen es Ihrem.« Er neigte nachdenklich den Kopf. »Vielleicht wäre es Ihnen lieber, wenn uns jemand begleitet?«
Emma schluckte. »Vielleicht.«
Er nickte. »Phillip wäre sicher bereit dazu. Er scheint ohnehin bei jeder Gelegenheit Ihre Gesellschaft zu suchen.«
War das inzwischen schon jedermann aufgefallen?, fragte sich Emma. »Ich bezweifle, dass er gern in die Kapelle mitgehen möchte. Vielleicht Lizzie?«
Henry zuckte die Achseln. »Wie Sie wollen.«
Sie fanden Lizzie im Salon. Sie arbeitete zusammen mit Lady Weston an einer Stickarbeit für eine Stuhlhusse. Emma hätte sich nicht hineingetraut, doch Henry schien es nichts auszumachen. Auf Henrys Frage hin war Lizzie sofort bereit, sie zu begleiten. Sie steckte die Nadel in den groben Stoff und stand sichtlich erleichtert vom Sofa auf.
Lady Westons Brauen hoben sich über die Brille, die sie für derlei feine Arbeiten trug. »Warum überhaupt jemand an diesen feuchten, ungemütlichen Ort gehen will, ist mir ein Rätsel.« Sie sah Lizzie bedeutsam an. »Es
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