Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
imitiert, dachte sie, oder vielleicht kreuzten alle Westons ihre »T« auf diese Weise.
Sie setzte ihre Suche fort. Als Nächstes sah sie sich die Verse an, die sie die Jungen nach einer Unterrichtsstunde in klassischer Dichtung hatte schreiben lassen; sie hatte sie noch nicht gelesen. Während sie sie überflog, blieb ihr Blick an einer kurzen Strophe hängen.
Verlieren könnt' ich mich in ihren traurig grünen Augen,
kann mich nicht sattseh'n an ihrer reizenden Gestalt.
Ich gebe vor, ich sei in Studien versunken,
und lern' in Wirklichkeit doch sie allein.
Sie war unterzeichnet nur mit einem – »W«.
Das Gedicht schien tatsächlich von ihr zu handeln, doch die »T« in dem Text waren nicht auf die übertriebene Weise gekreuzt wie in den beiden Briefen, die sie bekommen hatte.
Emma war versucht, ihren Vater um seine Meinung zu fragen, doch sie wollte ihn nicht beunruhigen. Sie dachte kurz daran, Mr McShane die kryptischen Briefe zu zeigen, weil er die Jungen und ihre Handschrift sehr viel länger kannte, doch wie groß wäre ihre Verlegenheit, wenn er lachte und meinte, dass es auf jeden Fall nur ein Scherz sein könne! Zwar war sie im Grunde selbst dieser Ansicht, doch bei dem Gedanken, dass der Pfarrer es offen aussprach, errötete sie vor Verlegenheit. Was für eine Demütigung! Nein. Sie beschloss, niemanden zu fragen. Sie würde das selbst herausfinden und allein damit fertig werden. Wie mit den meisten Problemen in ihrem Leben.
Sie schrieb ein paar Beurteilungen über die Gedichte und andere Arbeiten und gab sie Rowan und Julian zurück, als diese ein paar Minuten später, gefolgt von ihrem Vater, den Unterrichtsraum betraten.
Aus Angst, alles, was sie sagte – und nicht zuletzt ihr juckendes Ohr – könnte sie verraten, beschloss Emma, das Schulzimmer zu verlassen.
Sie ging aus dem Haus und spazierte allein durch den ummauerten Garten, froh, aus der Reichweite aller möglichen Briefeschreiber zu sein und ungestört nachdenken zu können. Sie beobachtete eine winzige, olivbraune Grasmücke, die zwischen den Zweigen eines blühenden Weißdorns herumflatterte, tschiff-tschaff, tschiff-tschaff sang und nach Insekten suchte.
Eine Tür ging auf und Henry Weston trat aus dem Haus.
Emma schaute rasch weg, doch nicht rechtzeitig genug, sie sah noch, dass Mr Weston grüßend die Hand hob. Sie unterdrückte ein Aufstöhnen. Es wäre unhöflich, so zu tun, als hätte sie ihn nicht gesehen.
Sie wartete, während er durch den Garten auf sie zukam, die breiten Schultern gestrafft, mit langen, festen Schritten.
»Hallo. Schön, Sie hier draußen zu sehen«, sagte er. »Haben Sie einen Moment Zeit? Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen.«
In ihrem Kopf schrillte eine Alarmglocke. »Ich … ja. Natürlich.«
Er trat näher und sagte in vertraulichem Ton: »Mir fiel auf, dass Sie beim Frühstück etwas … äh … geistesabwesend wirkten. Ist wirklich alles in Ordnung?«
Sie zögerte. Wenn er den Brief geschrieben hatte – natürlich als Scherz gedacht – würde sie ihm nicht die Genugtuung geben zu gestehen, dass er sie tatsächlich zum Grübeln gebracht hatte. Wenn Phillip ihn geschrieben hatte – aufrichtig gemeint – dann war das ihr Geheimnis, das sie tief in ihrem Herzen verschließen wollte. Und wenn Rowan oder Julian ihn geschrieben hatten … wollte sie wirklich daran schuld sein, dass einer der beiden jungen Männer Schwierigkeiten mit seinem strengen Halbbruder bekam?
Nein.
»Es ist alles in bester Ordnung.« Sie wich seinen forschenden Augen aus und betrachtete den blühenden Garten. »Ich hatte nur Sehnsucht nach ein bisschen frischer Luft.«
Er betrachtete weiter ihr Profil, sie konnte seinen Blick spüren.
In der Ferne bellte ein Hund. Ein unsichtbares Insekt kitzelte ihr Ohr und es fing wieder an zu jucken. Er betrachtete sie immer noch.
Ihr fiel ein, dass sie, sollte sie sich je in einem peinlichen Gespräch mit Mr Weston befinden, ihn nach der Kapelle fragen wollte, um die Verlegenheitspausen zu füllen. Und genau das tat sie jetzt.
»Mr Weston, darf ich Sie nach der Chapel of the Rock fragen? Phillip sagte, Sie seien so etwas wie ein Experte in Lokalgeschichte.«
Seine Brauen hoben sich angesichts des abrupten Themenwechsels. »Ich würde mich zwar nicht als Experten bezeichnen, aber ich interessiere mich für Geschichte, das stimmt.«
Erleichtert, dass er sie nicht mehr so eingehend musterte, fuhr sie fort: »Sind Sie je in der Kapelle gewesen?«
»Natürlich. Möchten Sie
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