Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
jeder zweitenWand der acht Steinmauern. Sie blickte sich in dem Oktagon um; es maß etwa siebeneinhalb Meter im Durchmesser. In der einen Ecke standen ein schlichter, baufälliger Altar und die Überreste einiger durchhängender, halb verrotteter Kirchenbänke. Auf der einen Seite des Altars befand sich ein altes Taufbecken – eine massive, etwa taillenhohe Säule mit einem versenkten Becken, um die Neugeborenen darin zu taufen. In der Mauer hinter dem Taufbecken sah Emma die Umrisse eines gewölbten Torgangs, der jedoch zugemauert und versiegelt war.
Henry folgte ihrem Blick. »Dieser Eingang führte ins Kirchenschiff, als es noch stand.«
Emma nickte. Sie trat an einen der hohen, offenen Fensterschlitze – das Westfenster – und reckte den Hals, um aufs Meer hinauszublicken. Der Anblick rief ein Gefühl des Verlorenseins in ihr hervor, ja der Panik, weil sie kein Land sah, nur das endlose Meer.
Hinter ihr sagte Henry: »Nach der Überlieferung hat im fünfzehnten Jahrhundert ein Mönch hier gelebt. Er hatte ständig ein Feuer im Fenster brennen, um die Schiffe vor den Felsen zu warnen.«
Emma schauderte unwillkürlich; ein Feuer kam ihr in diesem Moment sehr verlockend vor. Sie trat von der Fensteröffnung zurück, um sich das Taufbecken genauer anzusehen.
Henry fuhr fort: »Der Mönch wurde weit über neunzig Jahre alt; er lebte noch hier, als die Kapelle längst nicht mehr von der Kirche benutzt wurde. Dann kam ein Tag, an dem die Fischer einen schrecklichen Sturm voraussagten. Sie warnten den Mönch, doch er wollte nicht weggehen. Wie sich herausstellte, hatten die Fischer recht. Ebford erlebte den schlimmsten Wintersturm seit Menschengedenken. Das Meer stieg so hoch an, dass der Zugang zum Turm unter Wasser lag, und die See war zu rau, um mit dem Boot zu ihm hinauszufahren. Es heißt, dass der alte Mönch sich in sein Schicksal ergab. Er ließ das Feuer brennen, solange er konnte, und war bereit, zu seinem Schöpfer zu gehen. Damals wurde der Rest der Kirche weggerissen und der Mönch mit ihr. Nur der Turm blieb übrig.«
Emma schauderte wieder, wie Mr Weston bemerkte.
»Sie frieren. Hier, nehmen Sie das.«
Er wollte sich schon aus seinem Überzieher schälen, doch sie legte ihm rasch die Hand auf den Arm, um ihm Einhalt zu gebieten. »Nicht. Es geht schon.«
Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn berührt hatte, zog sie rasch ihre Hand zurück und zwang sich zu einem Lachen. »Es ist nur so eine schaurige Geschichte.«
»Ich finde sie eigentlich gar nicht schaurig. Ich bewundere den alten Mönch. Dies hier war sein Zuhause und er hat es geliebt. Hier hat er zu Gott gebetet und den Menschen gedient. Er hatte ein langes, erfülltes Leben und ist ohne Angst gestorben, in dem Wissen, dass der Himmel auf ihn wartet.«
Emma empfand bei seinen Worten ein nagendes Gefühl der Leere. Würde sie selbst dem Tod ohne Angst gegenübertreten können? Wenn sie morgen an die Himmelstür klopfen müsste, würde Gott sie dann überhaupt wiedererkennen, wo es doch schon so lange her war, dass sie an ihn gedacht hatte?
Henry ging zum Westfenster, von dem sie gerade zurückgetreten war, und schaute hinaus. »Ich komme gern hierher, zum Nachdenken. Und um zu beten. Manchmal, wenn ich aus diesen Fenstern schaue, sehe ich die Dinge klarer und es gelingt mir, mich wieder auf das zu konzentrieren, was wirklich zählt.«
Emma drehte sich um und schaute ihn an, überrascht von seinen ernsten Worten. »Und was ist Ihrer Ansicht nach wirklich wichtig?«
Er sah sie ebenfalls an, lachte bitter auf und schaute wieder aufs Meer hinaus. »Ich glaube nicht, dass Sie das hören möchten.«
»Doch.«
Zuerst sagte er nichts und sie dachte schon, er würde ihr nicht antworten. Doch dann sagte er leise: »Jedes dieser vier Fenster weist in eine Himmelsrichtung hinaus.« Er deutete auf das Fenster zu seiner Rechten. »Wenn ich nach Norden sehe, denke ich an Gott, den Allmächtigen, den Nordstern. Wenn ich nach Osten sehe, sehe ich das Dorf und denke an die Menschen, die dort leben und arbeiten. An meine Verantwortung für sie. Und wenn ich nach Süden sehe,nach Ebbington Manor, denke ich an die Familie, die Gott mir gegeben hat, mit allem Schönen und Schweren, das eine Familie mit sich bringt …«
Seine Worte verklangen, er schien sich in Gedanken zu verlieren.
Emma fragte: »Und wenn Sie nach Westen schauen?«
Er antwortete nicht, sondern starrte einfach weiter aufs Meer hinaus. Sie dachte, er hätte sie nicht gehört oder
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