Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
wolle nicht antworten. Doch dann sagte er, wie zu sich selbst: »Daran, wie mein Leben hätte sein können.«
Emma blinzelte. Hatte sie richtig gehört? War Henry Weston, der Erbe von Ebbington Manor, enttäuscht von seinem Leben? Unsicher, was sie sagen sollte, blickte sie auf die Figuren, die über den Fenstern eingeritzt waren. Sie kannte die griechische Mythologie; letztes Jahr hatte sie sogar einen Kurs darüber gehalten, anstelle ihres Vaters.
Sie deutete auf die größte, geflügelte Gestalt. »Das ist Boreas, der griechische Gott des Nordwinds. Seine drei Brüder sind …« Sie deutete auf die zweite Gestalt, dann die nächste und die übernächste und drehte sich dabei um sich selbst: »Zephyrus, der Westwind, Notus, der Südwind, und Eurus, der Ostwind.«
Henry nickte. »Richtig. Ihr Vater hat uns griechische Mythologie gelehrt, als ich in Longstaple war.«
Emma überlegte weiter, was sie noch über das Thema wusste. »Im Gegensatz zum freundlichen Zephyr war Boreas berüchtigt für sein aufbrausendes Wesen und die schrecklichen Stürme, die er schickte. Doch dann verliebte er sich in die schöne Oreithyia und änderte sich, um sie zu gewinnen.«
»Das ist doch alles nur Unsinn«, sagte Henry mit bitterem Lachen.
Doch Emma achtete nicht auf ihn, ihr war plötzlich ein Gedanke gekommen. Sie sagte: »Vier Brüder. Und vier Weston-Brüder. Wie interessant.«
Er machte ein finsteres Gesicht. »Das stimmt nicht.«
Sie sah ihn an. »Was davon?«
Er antwortete nicht, blickte sie aber weiter finster an.
Emma sagte gelassen: »Ich wollte damit nicht sagen, dass ich das heftige Wesen des Nordwinds mit Ihnen in Verbindung bringe.«
Er kreuzte die Arme vor der Brust und warf ihr einen freudlosen Blick zu. »Ach nein?«
Sie hob das Kinn. »Nein. Ich hatte noch nicht genügend Zeit, um zu entscheiden, welcher der Weston-Brüder dem Wesen des jeweiligen Windes entspricht.«
Er verzog das Gesicht. »Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Außerdem wissen wir beide sehr genau, in wem Sie den freundlichen Zephyr wiedererkennen.«
Das stimmt , dachte Emma. Doch sie hielt es für ratsam, diese Unterstellung weder abzuleugnen noch zu bestätigen. Stattdessen richtete sie sich auf und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich sollte jetzt lieber zurückgehen. Normalerweise helfe ich meinem Vater um diese Zeit, das Schulzimmer aufzuräumen.« In Wirklichkeit hatte sie noch mehr als genug Zeit, doch sie konnte es plötzlich kaum erwarten, den Turm zu verlassen und wieder ins Freie zu gelangen.
»Natürlich.«
Emma, in Gedanken fest entschlossen, ging zur Tür, hob den Riegel an und öffnete sie. Licht und Luft drangen herein und mit ihnen der überwältigende Wunsch, zu fliehen.
Sie ging auf die Treppenstufen zu. Ein leichter Regen hatte eingesetzt; die Feuchtigkeit machte die Steine schlüpfrig.
»Miss Smallwood, warten Sie.«
Sie drehte sich um. Henry schloss die Tür. Sie wartete, bis er bei ihr war.
Er kam und bot ihr seine Hand. »Bitte erlauben Sie.«
Diesmal zögerte sie nur einen winzigen Augenblick, dann legte sie ihre behandschuhte Hand in seine.
Er half ihr die Stufen hinunter; dann gingen sie zusammen über den Dammweg zurück ans Ufer. Emma fragte sich, ob sie es sich nur einbildete oder ob das Wasser tatsächlich dichter an den Damm herangedrungen war als vorhin, als sie zum Turm hinausgingen. Sie war froh, als sie wieder am Strand waren.
Sie blickte auf und sah Lizzie mit einem Mann sprechen, einem Mann, der viel zu gut gekleidet war, um ein Fischer zu sein. Als sie näher kamen, erkannte Emma in ihm den Rothaarigen, der an der Landspitze und in Mr Davies' Büro mit ihr gesprochen hatte.
Emma fragte sich, ob Lizzie ihn kannte oder ob er einfach ein Gespräch mit ihr begonnen hatte, so wie damals mit ihr selbst. Sie hoffte inständig, dass sie und Henry Lizzie nicht etwa einer Belästigung ausgesetzt hatten, indem sie sie allein ließen. Doch Lizzies Haltung, wie sie so neben dem Rothaarigen stand, zeugte von einer gewissen Vertrautheit, wenn auch nicht von freundlicher Vertrautheit, denn beide machten sehr ernste Gesichter.
Lizzie blickte zu ihnen hinüber und einen Moment lang wirkte es, als sei sie verärgert, dass sie in Gesellschaft des Mannes ertappt worden war. Sie hatte ganz offensichtlich nicht gesehen, dass Emma und Henry schon auf dem Rückweg waren. Doch im nächsten Augenblick dachte Emma auch schon, dass sie sich den verärgerten Ausdruck nur eingebildet hatte, denn Lizzie strahlte sie an,
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