Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
an.
Phillip betrachtete sie und schüttelte langsam den Kopf, ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen. »Wie Sie uns ansehen! Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Sie führen etwas im Schilde.«
»Ich?«, fragte Emma, ganz großäugige Unschuld. »Ich doch nicht!«
In Wirklichkeit ging sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nach. Sie hatte angefangen, sich mit einem neuen Wissensgebiet zu befassen. Genauer gesagt, mit vier Wissensgebieten.
Nach dem Frühstück ging Emma zurück auf ihr Zimmer, begierig, ihre jüngsten Beobachtungen über die Brüder in ihr Tagebuch einzutragen. Sie hatte noch etwa eine halbe Stunde, bis es Zeit war, zumGottesdienst aufzubrechen. Sie blickte um sich, überrascht, das in grünes Leder gebundene Büchlein nicht auf ihrem Nachttisch vorzufinden, wo es normalerweise lag. Oder hatte sie es in die Schublade gelegt, weil sie es nicht so offen herumliegen lassen wollte, nachdem sie derart persönliche Dinge über die Westons hineingeschrieben hatte? Sie suchte in der Schublade, fand jedoch nichts außer Taschentüchern und anderen persönlichen Besitztümern. Dann sah sie die Bücher durch, die auf dem Beistelltisch lagen. Nichts.
War es vielleicht heruntergefallen? Emma sah unter das Bett, unter den Tisch, zwischen die Bücher auf der Frisierkommode. Nichts. Sie suchte unter dem Waschtisch. Dann unten im Schrank. Nichts.
Sie blieb stehen und schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Wo hatte sie es hingelegt? Hatte sie es mit hinauf ins Schulzimmer genommen? Nein. Mit hinunter ins Frühstückszimmer? Niemals!
Ihr Magen verkrampfte sich panisch. Sie, die einen festen Platz für alles hatte und immer alles sorgfältig aufräumte, hatte ganz bestimmt nicht ihr Tagebuch verlegt. Nicht etwas so Persönliches und Privates.
Himmel hilf!
Jemand hatte ihr Tagebuch genommen.
Sie blieb stocksteif stehen; ein Schauder überlief sie. Wer konnte so etwas getan haben? Ein neugieriges Hausmädchen? Unwahrscheinlich. Lizzie? Sie wirkte sehr neugierig, aber Emma wollte nicht glauben, dass sie zu einem solchen Vertrauensbruch fähig war. Einer der Jungen? Es schien nicht ratsam, einen von ihnen zu beschuldigen, vor allem nicht die Söhne von Lady Weston.
Sie klingelte zum zweiten Mal nach Morva, etwas, was sie noch nie getan hatte.
Das Mädchen kam zehn Minuten später, mit rotem Gesicht. »Sie haben geklingelt, Miss?«
»Ja. Es tut mir leid, dass ich dich herbestellt habe, aber ich wusste nicht, wo ich dich um diese Tageszeit finden kann. Ich wollte dich fragen, ob du mein Tagebuch gesehen hast – ein in grünes Leder gebundenes Buch, etwa so groß? Es liegt nicht da, wo ich es hingelegt habe.«
»Nein, Miss.« Morvas Augen waren groß geworden. »Ich habe es nicht genommen, falls Sie das denken.«
»Nein, natürlich nicht. Warum solltest du auch? Ich hatte nur gehofft, dass du es beim Aufräumen vielleicht gesehen hast.«
»Nein, Miss. Aber wenn ich es finde, sage ich es Ihnen gleich.«
Emma dankte dem aufgeregten Mädchen und fing an, geistesabwesend Mantel, Haube und Handschuhe anzuziehen. Es wurde Zeit, zur Kirche aufzubrechen.
Sie ging hinunter, mit klopfendem Herzen. Sie hatte Angst zu fragen, aber noch größere Angst zu schweigen, während jemand anderes ihre privatesten Gedanken lesen konnte.
Die Familie versammelte sich in der Eingangshalle und wartete auf die Kutschen, die sie nach Stratton bringen sollten. Sir Giles und ihr Vater unterhielten sich leise miteinander. Lizzie sprach mit Julian, Rowan und Phillip. Lady Weston kam etwa eine Minute nach Emma die Treppe herunter, strahlend schön in einem elfenbeinfarbenen Kleid mit hohem Spitzenkragen, einem roten Umhang mit Stehkragen und passendem Hut mit einer flotten Feder. Nur Henry fehlte noch. Eine bessere Gelegenheit würde sich ihr nicht bieten.
Sie blickte sich um, beschloss, einen beiläufigen Ton zu wahren, holte tief Luft und fragte: »Hat jemand mein Tagebuch gesehen? Es scheint abhandengekommen zu sein. Grünes Leder. Ein Quartband.«
Ihr Vater fragte: »Hast du in deinem Zimmer nachgesehen, meine Liebe?«
»Natürlich. Da ist es nicht. Ich glaube, jemand hat es … unabsichtlich … weggenommen.«
Lady Weston runzelte die Stirn. »Weggenommen? Wie töricht, Miss Smallwood. Niemand nimmt Ihr Tagebuch. Sie haben es einfach verlegt, das ist alles. So was passiert nun mal.«
Lizzie fügte mit einem Blinzeln hinzu: »Vielleicht ist es verloren gegangen zwischen den vielen Büchern? Morva beklagt sich
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