Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
ihrem Nachttisch ausblies, nahm sie noch einmal ihr Tagebuch zur Hand. Sie wollte noch ein wenig schreiben in der Hoffnung, damit Ordnung in ihre Gedanken über den Besuch in der Kapelle und das unerwartete Gespräch mit Mr Weston zu bringen.
Ich muss zugeben, dass ich erstaunt bin. Wer hätte gedacht, dass Henry Weston so ernst und nachdenklich sein kann? Ich ganz bestimmt nicht! Ich habe meinen Ausflug mit ihm und Lizzie heute Nachmittag tatsächlich genossen – bis auf den unerfreulichen Moment, als wir zurückkamen und sie mit diesem seltsamen Mann sprach.
Ich grüble immer noch über die interessante, wenn auch müßige Frage, welcher der Weston-Brüder welchem der vier Winde zuzuordnen ist. Henry ist der kalte Boreas, das steht fest, auch wenn ich es auf sein Nachfragen abgestritten habe. Und ja, der liebenswürdige Phillip passt sehr gut zum Bild des milden, freundlichen Zephyrs.
Doch was ist mit Notus, dem Südwind, der Hitze und Nebel bringt, der es gut meint, aber manchmal allzu eifrig bläst? Und wer ist Eurus, der Ostwind, mit seiner leidenschaftlichen und zügellosen Mentalität, der so gerne Stürme aufkommen lässt?
Ist Rowan, reif für sein Alter und vielleicht der Verfasser eines scherzhaft gemeinten Liebesbriefs, eher wie Notus oder eher wie Eurus? Und was ist mit dem jungenhaften, talentierten Julian?
Natürlich gibt es keinen vernünftigen Grund, warum die vier Weston-Brüder die vier Winde repräsentieren sollten, aber mir gefällt diese Vorstellung. Ich werde die Brüder weiter beobachten und meine Schlüsse ziehen.
Am folgenden Morgen, einem Sonntag, saß Emma allein am Frühstückstisch. Ihr Vater, Sir Giles und Henry Weston hatten bereits gefrühstückt und waren auf ihre Zimmer zurückgekehrt, wie der Diener ihr mitgeteilt hatte. Ihr Vater und Sir Giles waren beide Frühaufsteher, ein frühes Frühstück also durchaus üblich für sie. Doch es hatte sie überrascht zu hören, dass auch Henry Weston bereits gegessen hatte und wieder gegangen war. Hoffentlich war er nicht so früh aufgestanden, um ihr aus dem Weg zu gehen.
Sie trank gerade ihren Tee aus, als Phillip und Julian zusammen ins Zimmer kamen, in Sonntagskleidung, lachend und scherzend. Rowan ging hinter den beiden; er sprach nichts und wirkte in sich gekehrt. Vielleicht glich er seinem ältesten Bruder stärker, als sie gedacht hatte.
Phillip begrüßte sie freudig wie immer, Julian mit höflichem Interesse und Rowan mit einem gemurmelten »Morgen«, das kaum mehr als ein Grunzen war. Sie dachte an den Brief und an Rowans gekreuzte T. Wenn die scheinbare Gleichgültigkeit des Jungen ein Versuch war, eine heimliche Jugendliebe zu verbergen, so gelang ihm das ziemlich gut. Aber wahrscheinlich irrte sie sich einfach, was die Handschrift betraf.
»Wir haben gehört, dass Sie gestern zur Kapelle hinuntergegangen sind«, sagte Julian mit leuchtenden Augen. »Wie finden Sie den Ort?«
»Faszinierend«, sagte Emma und beobachtete die beiden Brüder verstohlen, um sich mehr Aufschluss über ihre Vier-Brüder-vier-Winde-Theorie zu verschaffen.
»Hatten Sie denn keine Angst, so ganz von Wasser umgeben?« Phillip zog schaudernd die Schultern zusammen.
»Ein bisschen, ja. Aber es war es wert.«
»Ich bin überrascht, dass Sie Henry zu einem solchen Ausflug überreden konnten«, überlegte Phillip laut. »Er war doch sicher so ernst und streng wie immer, oder?«
Sie sah Phillip über den Rand ihrer Teetasse an und lächelte leicht, unsicher, wie sie Henry auf dem Ausflug beschreiben sollte – oder ob sie es überhaupt versuchen wollte.
»Weshalb das geheimnisvolle Lächeln auf Ihrem Gesicht?«, fragte Phillip, ein neckisches Blitzen in den Augen. »Sagen Sie nicht, dass er tatsächlich ein angenehmer Gesellschafter war!«
»Doch, das war er«, gestand Emma. »Sehr angenehm sogar.«
Julian sagte: »Was haben Sie die ganze Zeit da draußen gemacht? Das wüsste ich wirklich gern.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah ihr mit vielsagendem Grinsen ins Gesicht. »Lizzie sagte, Sie beide seien eine ganze Weile allein gewesen.«
»Tatsächlich?«, fragte Phillip überrascht. »Und worüber haben Sie mit unserem wortkargen Henry gesprochen?«
»Hauptsächlich über griechische Mythologie«, sagte Emma beiläufig; sie wollte sämtliche romantischen Gerüchte im Keim ersticken. »Es war sehr interessant.«
»Natürlich«, murmelte Rowan.
Emma registrierte interessiert seine schlechte Laune, dann sah sie Julian forschend
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