Die Tochter des Kardinals
dennoch schönen Worten keinen Glauben schenkte, wenn ihre Augen ihr etwas anderes zeigten.
»Dieser Brief«, sagte Rufina und deutete mit dem Kinn auf das Schreiben vor sich, »kam heute aus Rom.«
»Aus Rom?«, wiederholte Giulia aus Verlegenheit, dass ihr nichts Besseres einfallen mochte. Ihre Gedanken rasten. Sie wusste, dass der Inhalt des Briefes in Zusammenhang mit ihr stand, konnte sich diesen aber beim besten Willen nicht erklären. Was sollte jemand aus Rom von ihr, der jungen Nonne aus der Provinz, wollen?
Rufina nickte. Dabei schaute sie Giulia aus traurigen und besorgten Augen an. »Schwester Prudenzia, Äbtissin des Klosters San Silvestro, hat ihn mir geschrieben.«
Jetzt wurde die Angelegenheit ein wenig konkreter. Wobei Giulia noch immer nicht verstand, was sie mit dieser Schwester Prudenzia gemein hatte.
»Hast du diesen Namen je zuvor gehört?«, fragte Rufina.
Giulia schüttelte den Kopf.
»Hm«, machte Rufina. »Ich kann mir keinen Reim darauf machen.« Nachdenklich starrte sie auf den Tisch.
»Worauf, Mutter?«, fragte Giulia.
Rufina schrak hoch. »Bitte?«
»Worauf könnt Ihr Euch keinen Reim machen?«
Rufina schien wieder bei der Sache zu sein. »Was diese Schwester Prudenzia von dir will, mein Kind. Sie weist mich an, dich nach Rom zu schicken. Unverzüglich. Das hat sie wortwörtlich geschrieben. Unverzüglich! Welch Unverfrorenheit!«
Die Welt um Giulia versank. Was in Gottes Namen sollte sie in Rom? Sie war glücklich an dem Ort, an dem sie aufgewachsen war. Sie wollte nicht weg. Nie und nimmer! »Hat Schwester Prudenzia einen Grund für diesen Wunsch genannt?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Nein«, sagte Rufina. »Und ich würde es auch weniger als Wunsch denn als Befehl verstehen. Die Äbtissin deutet nur an, dass dies von höherer Stelle ausging.« Sie seufzte. »Mein Kind, so sehr es mir das Herz zerreißt, doch ist es an der Zeit, deine Sachen zu packen.« Sie stand auf.
Giulia erhob sich ebenfalls. Ihre Beine zitterten, und ihre Augen wurden so feucht, dass sie Rufina nur noch verschwommen wahrnahm. Sie lief um den Tisch herum und fiel der Mutter Oberin um den Hals. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr unterdrücken. Während Rufina sie fest in ihre Arme nahm, schluchzte Giulia ihre Trauer und Angst hinaus.
»Sieh dich vor«, flüsterte Rufina in Giulias Ohr. »Rom ist ein gefährliches Pflaster – selbst für eine Nonne. Vermutlich gibt es keinen unchristlicheren Ort auf Gottes Erden. Hüte dich vor den Priestern. Und noch viel mehr: Hüte dich vor den Kardinälen. Hörst du? Man kann den Kardinälen nicht über den Weg trauen.«
Noch immer schluchzend nickte Giulia.
»Und schreib mir. Sooft es möglich ist. Jedoch mindestens einmal in der Woche. Versprich es mir!«
»Ich …«, stammelte Giulia, »ich verspreche es.«
»Gut«, sagte Rufina und nahm Giulias Gesicht in ihre Hände. »Nun geh, mein Kind. Geh.«
Noch während sie sich umwandte, entdeckte Giulia die Träne, die sich aus Rufinas Auge stahl. Schnell wandte Rufina sich ab.
Von der Tür aus sah Giulia, wie Rufina aus dem Fenster schaute. Ein letzter Blick auf den Rücken der Mutter Oberin – und Giulia trat hinaus auf den Kreuzgang. Kaum war die Tür verschlossen, schnatterten die wartenden Schwestern drauflos.
»Eine Kutsche ist soeben eingetroffen!«, rief Ada.
»Vier Pferde vorgespannt!«, fügte Liliana hinzu.
»Mit dem Wappen des Vatikans an den Türen!«, ergänzte Rossana.
Erst in diesem Moment gewahrten sie Giulias bedrücktes Gesicht.
»Was ist geschehen?«, fragte Rossana.
Giulia wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie war sich sicher, dass sie beim ersten Wort erneut in Tränen ausbrechen würde.
»Diese Kutsche«, sagte Ada, »sie ist deinetwegen hier, nicht wahr?«
Giulia nickte. »Ich bin nach Rom befohlen«, presste sie hervor. Dann spürte sie auch schon, wie ihr die Tränen hochstiegen. »Ich muss packen«, hauchte sie und lief an den Schwestern vorbei in Richtung Dormitorium.
Dort angekommen ging sie in ihre Kammer. Während sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpackte, stürzten tausend Gedanken auf sie ein. Wer war verantwortlich für ihre Abberufung? Und aus welchem Grund? Was würde sie in Rom erwarten? Rom!, dachte sie. Was soll ich dort nur? Für sie, die Nonne aus der Provinz, erschien die Stadt nicht minder gefährlich und unheimlich, als hätte man sie auf den Mond beordert. Sie war allein mit den beschaulichen Dörfern der Umgebung vertraut. Hier
Weitere Kostenlose Bücher