Die Tochter des Kardinals
kannte sie jeden einzelnen Menschen. Rom hatte weitaus mehr Einwohner als alle Dörfer hier zusammen. Und man bekam nichts Gutes über Rom zu hören. Nur Geschichten von Trunkenheit, Raufereien, gar Mord und Totschlag. Von jungen Frauen, die ihren Körper gegen bare Münze feilboten. Von Kindern, die in der Gosse lebten. Von Adeligen, die weder Familie noch Freundschaft kannten, wenn es um ihren Gewinn an Macht, Einfluss und Gold ging. Der Teufel war es, der diese Stadt regierte. Und der Teufel musste es sein, der für ihre Abordnung dorthin verantwortlich zeichnete.
Schon hatte Giulia ihre Sachen gepackt. Sie nahm den schweren Beutel in beide Hände, warf einen letzten Blick in ihre Kammer und ging.
In den Gängen und Räumen fand sie keine einzige der Schwestern vor. Die Stille bedrückte sie noch mehr. Wie gern hätte sie sich von den geliebten Schwestern verabschiedet. Auch im Klosterhof fand sie niemanden vor. Schließlich schritt sie durch das große Klostertor und erstarrte. Der gesamte Konvent hatte sich vor den Klostermauern versammelt, um sich von ihr zu verabschieden. Die fünfzig Nonnen sahen Giulia lächelnd entgegen. Die ließ den Beutel fallen und bemühte sich mit aller Kraft, nicht zu weinen, sondern stark zu sein.
Ada, Rossana und Liliana traten ihr entgegen und überreichten ihr einen Strauß duftender Rosen aus dem Klostergarten. Schwester Morena, die älteste unter den Schwestern, gab Giulia einen Korb angefüllt mit ausreichender Wegzehrung. Giulia umarmte sie alle und drückte sie fest an sich.
Vor der Kutsche wartete Schwester Rufina. Vor ihren Füßen kniete Giulia nieder und küsste Rufinas Ring. Die Mutter Oberin legte ihre Hände auf Giulias Schultern und zog sie sanft hoch. »Denk an meine Worte, mein Kind«, flüsterte sie. »In Gedanken bin ich stets bei dir.«
Giulia versuchte zu lächeln. Doch es misslang. Dann machte sie einen Knicks. Bevor sie einstieg, drehte sie sich noch ein letztes Mal um. Sie versuchte, sich jedes einzelne Gesicht ihrer Mitschwestern einzuprägen. Schließlich stieg sie in die Kutsche.
Der Kutscher verstaute Giulias Gepäck auf dem Dach und nahm auf dem Kutschbock Platz. Er griff nach der Peitsche, ließ sie dreimal schnalzend auf den Rücken der Pferde niedersausen, und schon begann die Fahrt.
Giulia lehnte sich winkend aus dem Fenster. Die Schwestern liefen der Kutsche hinterher und begleiteten sie mit den besten Wünschen.
Es war Rufina, die am lautesten rief. »Gott mit dir, mein Kind!«
Die Kutsche gewann an Fahrt, die Schwestern wurden kleiner, bis sie nur noch schwarze Punkte in der Ferne waren. Giulia lehnte sich zurück. Sie fühlte sich erschöpft und angespannt zugleich. Wieder kreisten ihre Gedanken, und zum ersten Mal verspürte sie Angst.
6
Die Fahrt führte sie vorbei an den so wohlvertrauten Dörfern der klösterlichen Umgebung. Vorbei an Wiesen, Feldern und Bauernhöfen. Giulia erblickte Menschen, die ihr seit ihrer Kindheit bekannt waren. Viele von ihnen würde sie sehr vermissen. Ihre geliebten Wälder zogen an ihr vorüber ebenso wie die Bäche und Auen. Nach einer Stunde war sie weiter entfernt vom Kloster als jemals zuvor in ihrem Leben.
Der Kutscher, ein umgänglicher älterer Mann, sagte ihr während einer Rast, dass sie in sieben Tagen Rom erreichen würden. Die Nächte würden sie in Herbergen verbringen.
Bis in die Abendstunden hinein saß Giulia auf den mit rotem Samt bezogenen Sitzen der päpstlichen Kutsche, schaute aus dem Fenster oder grübelte.
Da plötzlich gewahrte sie einen hellen Fleck am Rande eines Waldes. Sie drehte sich zum Fenster und streckte den Kopf hinaus. »Anhalten!«, rief sie dem Kutscher zu. »Sofort anhalten!«
Der Kutscher tat, wie ihm geheißen. Er griff in die Zügel und brachte die Pferde zum Halten. Verwirrt schaute er von seinem Kutschbock hinab.
Giulia riss unverzüglich die Tür auf und sprang auf den staubigen Boden. Ihre Augen suchten den hellen Punkt nahe am Wald. Dort brannte ein gewaltiges Feuer, und eine große Menschenmenge hatte sich versammelt. Giulia hörte ihre grölenden Rufe und schallendes Gelächter. Dann hörte sie die Schreie. Unmenschliche Schreie voller Qual und Todesangst. Und im gleichen Atemzug begriff sie, was dort vor sich ging. »Sie verbrennen Menschen!«, rief sie voller Entsetzen aus.
Mittlerweile war der Kutscher zu ihr getreten. Auch er blickte zu dem Feuer hinüber.
»Es hieß, in dieser Gegend werden keine Hexen mehr verbrannt«, entfuhr es ihr.
»Ich
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