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Die Tochter des Kardinals

Die Tochter des Kardinals

Titel: Die Tochter des Kardinals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Fandrey
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seines Auftrags zu erfüllen. Er verließ das Haus, schlich durch den Garten und betrat wieder den Petersdom.
    Er streifte durch die Gänge und Hallen, bis er den Trakt erreichte, in dem die Küchen und Gesindestuben lagen. Plötzlich sah er zwei Diener in samtbraunen Kleidern vor sich auf dem Flur. Anatol folgte ihnen und hörte aus deren Gespräch, dass beide den Papst auf seiner Reise begleiten würden. Die Diener begaben sich in die Küche, und Anatol musste geduldig darauf warten, dass einer oder beide wieder herauskamen.
    Endlich war es so weit. Einer der Diener verließ die Küche. Er achtete nicht auf Anatol, der vor einer der Türen stand, als würde er Wache stehen. Anatol folgte dem Diener in sicherem Abstand.
    Irgendwann öffnete der Diener eine Tür in einem verlassenen Seitentrakt. Anatol konnte erkennen, dass es sich um einen Lagerraum handelte. Er sah sich noch einmal um, dann betrat er den Raum.
    Die Kammer war voller Kissen, Decken, Vorhänge und Stoffe. Der Diener drehte sich nach ihm um. »Was wünscht Ihr, Soldat?«, fragte er mit knabenhafter Stimme. Sein dunkles Haar war glatt und voll, seine Haut so weich wie Seide. Er konnte kaum älter als achtzehn Jahre sein.
    »Du gehörst zu der Dienerschaft, die in der Frühe mit Seiner Heiligkeit reist?«, fragte Anatol.
    »Ja«, sagte der Diener.
    »Bist du im Besitz gültiger Papiere?«, wollte Anatol wissen.
    »Gewiss«, antwortete der Diener. »Aber wozu wollt Ihr …«
    »Es ist meine Aufgabe, jeden zu überprüfen, der Seine Heiligkeit begleitet«, erklärte Anatol. »Die Sicherheit Seiner Heiligkeit hat oberste Priorität.« Er streckte die Hand aus.
    Der Diener zog seine Papiere hervor und reichte sie Anatol.
    Anatol faltete das Dokument auseinander. »Wie lautet dein Name«, fragte er.
    »Lino Leopolo«, sagte der Diener.
    Anatol überprüfte die Angabe anhand des Dokuments. »Gut«, sagte er und betrachtete Lino vom Scheitel bis zur Sohle. »Deine Kleider werden mir passen.«
    Lino wich einen Schritt zurück. »Ich verstehe nicht«, sagte er. »Was wollt Ihr von mir?«
    »Deine Kleider«, sagte Anatol und tat zwei Schritte auf Lino zu. »Nur deine Kleider, mein Freund.«
    Lino versuchte, die Tür zu erreichen, aber Anatol war schneller. Er sprang Lino von hinten an, woraufhin dieser der Länge nach zu Boden fiel. Anatol packte Lino an den Schultern und drehte ihn auf den Rücken. Seine Finger legten sich um Linos schlanken Hals und drückten zu. Aus Linos Kehle drang ein verzweifeltes Glucksen, seine Augen waren panisch auf Anatol gerichtet. Er schlug mit Armen und Beinen um sich, aber Anatols Griff lockerte sich nicht. Linos Gesicht wurde blassblau, dann erstarb seine Gegenwehr. Anatol drückte noch immer zu, obwohl Lino längst tot sein musste. Erst allmählich lockerte er die tödliche Umklammerung und horchte an Linos Brust.
    Zufrieden richtete Anatol sich auf. Er entkleidete den Toten und sich selbst und schlüpfte in Linos Hosen und Wams. Zum Schluss setzte er die braune Kappe des Dieners auf. Die Papiere verstaute er in einer Tasche. Suchend sah er sich um, bis er einen Haufen alter Decken fand. Er zog den toten Leib hinüber zur Wand und bedeckte ihn mit den Decken.
    Dann verließ er die Kammer. Er zog sich in einen ruhigen Winkel des Petersdoms zurück, wo er schlief, bis der Morgen graute.

22
    Die Nacht war viel zu schnell vorüber. Schwester Regina weckte Giulia nach dem ersten Hahnenschrei. Noch missgelaunter und wortkarger als üblich, vermutlich aus Neid, weil sie nicht an der päpstlichen Reise teilnehmen durfte, sagte sie Giulia, sie solle sich ankleiden und sich umgehend vor dem Petersdom einfinden. Beten solle sie zwischendurch.
    Die Aufregung in Giulias Brust wuchs mit jedem Augenblick. Nach so langer Zeit würde nicht nur der Heilige Vater seine Heimat wiedersehen, sondern auch sie selbst. Zwar gab sie sich keinerlei Hoffnungen hin, das Kloster Santa Annunziata besuchen zu dürfen, doch freute sie sich auf die Wälder, Berge und Seen in der Mark Ancona. Nirgendwo sonst roch die Luft so würzig und blumig zugleich, war das Wasser blauer, waren die Menschen freundlicher. Auf all dies freute sie sich so sehr, dass sie am liebsten den mächtigen Petersdom umarmt hätte.
    Giulia trat aus der Basilika ins Freie. Sie blickte die Stufen hinab auf den Petersplatz und fand die Reisegesellschaft versammelt vor. Zehn Kutschen, etwa drei Dutzend mit Gepäck beladene Pferdewagen, ebenso viele Ochsenkarren, auf denen unzählige

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