Die Tochter des Kardinals
war der Diener Lino Leopolo. Giulia erkannte ihn sofort. Sie mochte Lino nicht. Sie spürte jedes Mal wieder Unbehagen, sogar Angst in seiner Nähe, wobei sie nicht zu sagen vermochte, woher diese Gefühle kamen. Zudem mochte sie seinen undurchsichtigen Charakter nicht, der stets hinter einer kriecherischen, mit falscher Freundlichkeit bemalten Maskerade zu stecken schien. Doch womöglich war sie nur eifersüchtig darauf, dass der Heilige Vater ihm ähnlich viel Aufmerksamkeit schenkte wie ihr selbst.
Lino betrat das Zelt. In der Hand hielt er einen großen silbernen Becher, aus dem es heiß dampfte. »Euer Heiligkeit«, sagte er und verneigte sich. »Ich bringe Euch frischen Brennnesseltee. Ich selbst habe die Brennnesseln an dem Bach gepflückt, in dem Ihr einst schwimmen lerntet.« Er trat näher und reichte dem Papst den Becher.
Dieser blies die Schwaden fort. »Wir danken dir, guter Lino«, sagte er und leckte sich über die Lippen.
»Haltet ein!«, rief Giulia und rannte zum Heiligen Vater. »Bitte erlaubt.« Sie nahm seinen Becher und goss einen Teil des Tees in einen anderen Becher. Diesen reichte sie Lino. »Trink!«
Linos Augen verengten sich. Es schien, als wollte er Giulia an die Kehle springen. Dann aber entspannte sich seine Haltung und er nahm einen tiefen Schluck des Gebräus.
Giulia musterte den Diener eindringlich. Als er nach einer Weile noch immer keine Anzeichen einer Vergiftung zeigte, gab sie den Becher dem Papst zurück. »Verzeiht mir, Euer Heiligkeit. Wir können nicht vorsichtig genug sein.«
Papst Sixtus schien Giulia ihr Eingreifen nicht übelzunehmen, sondern trank genüsslich von dem Tee.
Giulia schaute zu Lino hinunter. Sie überragte ihn um eine halbe Haupteslänge. »Gewiss brauchen Seine Heiligkeit nun Ruhe«, sagte sie zu ihm.
Linos Gesichtszüge verzerrten sich zu einer Fratze, die wohl ein Lächeln zeigen sollte. »Gewiss«, sagte er und entschwand.
»Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Euer Heiligkeit«, sagte Giulia und verließ ebenfalls das Zelt. Ihre eigene kleine Behausung aus dünnem Stoff lag nicht weit entfernt. Sie begab sich dorthin, entkleidete sich und schlief bald darauf ein.
Später in der Nacht war die Luft erfüllt vom Gesang der Zikaden und den Rufen der Käuzchen. Gardisten patrouillierten im Lager und außen herum. Aus den Zelten drang Schnarchen.
Anatol lag wach in seinem Zelt. Gerade ging ein Gardist draußen vorbei. Er wartete, bis sich die Schritte entfernten, dann zog er seinen langen Dolch unter der Decke hervor und richtete sich auf. Er steckte den Kopf hinaus in die kühle Luft und schaute umher. Als weiterhin alles ruhig blieb, verließ er seine Unterkunft und schlich in die Nähe des großen Papstzeltes.
Etwa fünfzig Schritte entfernt legte er sich flach auf den Boden und bewegte sich kriechend weiter. So erreichte er die Rückwand des Zeltes. Er klopfte ein paar Mal an den Stoff. Kein Laut drang von drinnen an sein Ohr. Langsam zückte er den Dolch und durchstach zwei Ellen über dem Boden vorsichtig die Zeltwand. Wieder wartete er, ob jemand das Geräusch vernommen hätte. Er nahm den Schaft des Dolches fest in beide Hände, schnitt den Stoff bis auf den Boden auf und wartete erneut. Noch immer blieb alles still. Dann kroch er durch den Spalt. Linker Hand erklang das brummende Schnarchen des Papstes.
Anatol richtete sich auf. Auf Zehenspitzen schlich er hinüber zu der Schlafstatt des Heiligen Vaters. Der Papst lag vor ihm auf dem Rücken, die Hände über der Brust gefaltet. Schweißperlen traten auf Anatols Stirn, liefen ihm in die Augen und trübten seinen Blick. Er hob den Dolch über seinen Kopf, bereit, die kalte Klinge zum tödlichen Stich in das Herz des Papstes zu stoßen. Doch seine Hände wollten dem Befehl des Verstandes nicht folgen. Er ließ den Dolch sinken und atmete einige Male tief ein und aus. Dann holte er erneut aus. »Ich bin des Teufels«, flüsterte er. »Gottes Strafe ist mir sicher. Dafür werde ich tausend mal tausend Jahre im Höllenfeuer brennen. Für alle Ewigkeit.«
Wieder ließ er den Dolch sinken und trat zwei Schritte zurück. Kalter Angstschweiß kroch über seinen Körper, rann seinen Rücken hinab. »Ich kann es nicht tun«, wisperte er.
Doch schließlich siegte die Gier nach Geld und die Gewissheit, von Carafa die Absolution zu erhalten. Er baute sich ein weiteres Mal vor dem Schlafenden auf.
Plötzlich schlug der Papst die Augen auf. Schlaftrunken sah er umher und entdeckte Anatol, der an
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