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Die Tochter des Ketzers

Die Tochter des Ketzers

Titel: Die Tochter des Ketzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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erleichterte, ließ die Finsternis sie seine unbeweglichen Lippen, die warme Luft, die aus seiner Nase trat, schließlich nur deutlicher spüren – zu deutlich.
    Sie riss die Augen auf, versuchte nicht, Gaspare anzusehen, sondern den engen Raum hinter ihm. Sie sah nicht viel davon, gerade genug, um von der Tür her eine Bewegung wahrzunehmen. Zuerst dachte sie, dass es Kerkermeister Simone wäre, der gekommen war, sie zu holen.
    Doch dann gewahrte sie Ray dort stehen. Seine Miene deuchte sie zerrissen von Verwirrung und von Eifersucht, von kindlichem Trotz und schmerzlicher Kränkung.
Corsica, 251 n.Chr.
    Ich habe nie zuvor und nie danach die Lippen eines Mannes gespürt. Ich weiß zwar, wie sie riechen können. Mancher Atem hat mich schon getroffen, der eine warm, der andere stinkend, wieder anderer feucht. Auch nackte Haut habe ich schon gespürt. Aber ich wurde nur ein einziges Mal in meinem Leben geküsst.
    Felix Gaetanus Quintus küsste mich, an jenem Tag, als Julia Aurelia gekreuzigt wurde, als sie an jenem Querbalken hängend nach vielen mühseligen Stunden erstickt war, umsurrt von Fliegen, verspottet von Soldaten – und beobachtet von diesem bleichen, ausdruckslosen Mann, der mir eben gesagt hatte, dass er sein Leben lang nur seine Pflicht tun wollte.
    Er begehrte mich nicht, ganz sicher nicht; er suchte bestenfalls Trost bei mir. Vielleicht wollte er nur etwas anderes schmecken als den verdorbenen Odem des Todes, und meine Haut schien ihm wohl ausreichend frisch, lebendig, glatt.
    Er küsste mich auf die Stirne, auf die Schläfen, auf die Wangen, auf den Mund, nicht liebkosend, eher saugend, nicht sonderlich gierig oder hungrig. Er schien keinen Appetit auf meinen Leib zu haben, vielleicht jedoch die Hoffnung, dass jener – wenn er sich nur ausreichend gefräßig daran labte – den eigenen so vollstopfen müsste, dass dort nichts Leeres, Löchriges, namenlos Dunkles verbleiben würde.
    Seine Lippen, die ich stets als so schmal empfunden hatte, fühlten sich fleischig an, zugleich doch rau. Überall waren sie gleichzeitig, sodass ich kurz vermeinte, er bestünde aus nichts anderem als einem riesengroßen Maul. Wie gerne hätte ich mich einst von ihm verschlingen lassen! Doch nun kam mir in den Sinn, was er von Julias Tod erzählt hatte und dass er die Adern, die an ihren Händen hervorgetreten waren, mit schwarzen Würmern verglichen hatte.
    Seine Lippen erinnerten mich an diese Würmer. Sie krochen auf mir herum, sie nagten an mir, und anstatt mit hektischem Atmen, mit Pulsieren zu antworten, konnte ich nur daran denken, dass gleiche Würmer am liebsten Leichname fressen, die nicht rechtzeitig verbrannt werden.
    Einen Augenblick lang löste er sich von mir, starrte mich an, gewahr werdend, wer ich war und was er da tat, doch zu sehr von Sinnen, um dem Bedeutung beizumessen. Da erst begriff ich, warum Julia ihn angezogen, warum er sie begehrt hatte, warum sie ihm aufgefallen war.
    Weil sie ihm ähnlich war und doch etwas hatte, was er selbst nicht besaß und vielleicht nie besessen hatte: jenes Fordernde, Willensstarke. Die Todessehnsucht einte sie, der manchmal blinde, harte Blick – doch sie hatte diesen Tod voller Lebendigkeit und Stärke gesucht, hatte ihn herausgefordert und angenommen, wohingegen er langsam von innen her vertrocknet und verkümmert war. Sie konnte ihre Pflicht oder das, was sie dafür hielt, aufrecht und entschlossen erfüllen, während er an seinen Aufgaben zerbrach. Ich weiß nicht, wann er solcherart gestorben war. Ob er von der strengen Erziehung seines Vaters gebrochen worden war, von der Erfahrung des Krieges, von seinem Abstieg. Ich wollte es auch gar nicht mehr wissen. Mir ging auf, dass er mir das, was ich mir stets von ihm erhofft hatte und warum ich ihn zu lieben geglaubt hatte – die Aufmerksamkeit, die Wertschätzung –, niemals würde geben kön- nen. Ich musste mir all das selbst schenken, wenn ich es haben wollte, es nicht von ihm oder irgendeinem anderen Menschen erwarten.
    »Bitte, Herr, lass mich los!«, forderte ich. Meine Stimme zitterte noch. »Ich will das nicht.«
    Kurz schien es, als würde er gehorchen. Er wich zurück, beugte sich auch nicht wieder vor, um mich erneut zu küssen. Doch dann hob er plötzlich seine Hände, lang und dünn und kalt, legte sie mir auf meinen Nacken, so wie ich oft den seinen berührt hatte, um ihn zu massieren, ließ sie schließlich tiefer rutschen, auf meine Schultern, meine Brüste. Erdrückte sie, dass es

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