Die Tochter des Königs
»Stellen wir uns doch mal vor, Daniel
hat nach der Rauferei Williams Handy gefunden. Daniel glaubt, dass du in den Typen verliebt bist.« Er hielt inne, als wollte er ihr Gelegenheit geben, das zu bestreiten, aber als sie schwieg, fuhr er fort: »Er steht eindeutig auf dich, er ist wahnsinnig eifersüchtig, und das ist die perfekte Möglichkeit, dich hierherzulocken.« Er schaute sich wieder um. »Jess!« Unvermittelt legte er ihr einen Arm um die Schultern. »Steig wieder ins Auto. Sofort.« Er führte sie vom Tor fort.
»Warum?« Instinktiv wehrte sich Jess gegen sein Drängen.
»Wir werden beobachtet. Dreh dich nicht um. Geh einfach langsam zum Auto. Jetzt.« Er schob sie zur Beifahrertür und ließ sie einsteigen, schlug die Tür hinter ihr ins Schloss und ging lässig zur Fahrertür, die Schlüssel in der Hand. Er stieg selbst ein, steckte den Schlüssel ins Schloss und fuhr los.
»Da hat jemand ein Stück weiter unten auf der Straße gestanden und uns beobachtet«, sagte er.
»Daniel?«
»Ich konnte ihn nicht genau erkennen.« Rhodri bog in eine Seitenstraße und fuhr nach einem prüfenden Blick in den Rückspiegel an den Rand, wo er stehen blieb. »Sag mal, Jess, wie gefährlich ist dieser Typ wirklich?«
Sie lehnte sich im Sitz zurück und schloss einen Moment die Augen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste ihm alles erzählen.
»Er hat gedroht, mich umzubringen«, sagte sie, als sie das Ende ihrer Geschichte erreichte. »Vielleicht übertreibe ich ja, aber ich habe wahnsinnige Angst vor ihm.« Sie zog die Schultern hoch. »Er hat mich davon überzeugt, dass er mich umbringen will. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass ich keine Gefahr für ihn bin, ich habe ihm geschworen,
keiner Menschenseele davon zu erzählen, aber er glaubt mir nicht.«
»Dieser Dreckskerl! Damit kommt er nicht ungeschoren davon!« Dann schwieg Rhodri einen Moment und ließ das, was Jess ihm erzählt hatte, auf sich wirken. »Und was hast du dagegen unternommen?«
»Nichts.« Sie schüttelte den Kopf. Merkwürdigerweise war ihr jetzt, da Rhodri alles wusste, sehr viel wohler.
»Du kommst mir aber nicht wie jemand vor, der sich einschüchtern lässt.« Es klang wie ein Vorwurf.
Sie lächelte gequält. »Leider doch.«
»Du könntest dem Ganzen ein Ende setzen und zur Polizei gehen.«
»Sie würden mir nicht glauben. Es gibt keinen einzigen Beweis. Es stünde mein Wort gegen seins. Deswegen versucht er ja, alle zu überzeugen, dass ich den Verstand verloren habe. Damit niemand mich noch für glaubwürdig hält. Aber du glaubst mir doch, oder?« Sie drehte sich zu ihm und sah ihn prüfend an.
Er nickte. »Doch, ich glaube dir. Vielleicht bin ich ja mittlerweile genauso paranoid wie du, aber das denke ich nicht.« Er warf ihr ein warmes, zuversichtliches Lächeln zu. Nicht zum ersten Mal wunderte sich Jess, wie geborgen sie sich in der Gegenwart dieses Mannes fühlte. »Ich sollte mal das Haus in Augenschein nehmen, vor dem dieser Mann gestanden hat«, sagte er.
»Aber nicht ohne mich.«
»Er ist hinter dir her, Jess.«
»Genau, und ich werde nicht allein hier im Auto warten!«
Rhodri runzelte die Stirn. »Gut, dann gehen wir zusammen. Oder nein, weißt du, was? Ich fahre direkt vors Haus und klopfe an die Tür, ja? Du bleibst unterdessen im verschlossenen
Auto sitzen.« Er grinste zu ihr hinüber. »Ich kann’s nicht glauben, dass wir das tatsächlich machen.«
Im Rückwärtsgang fuhr er auf die Hauptstraße zurück und blieb vor dem letzten Haus in einer Zeile von schäbigen zweistöckigen Häusern stehen, deren hübsche, mit blühendem Jasmin überwucherte Balkons vom bröckelnden Putz ablenkten. Rhodri schloss die Autotür hinter sich zu, marschierte zur Haustür und klopfte. Sie war nicht richtig geschlossen und schwang leise knarzend auf.
»Hallo?«, rief er. »Ist da jemand? William?«
Keine Antwort.
» C’è qualcuno? « Immer noch keine Antwort. Er sah sich um. »Ich gehe rein«, flüsterte er.
Als er das Haus betrat, stieg Jess rasch aus dem Wagen und lief ihm nach. Gemeinsam warfen sie einen Blick auf den Tisch, der im Flur direkt hinter der Tür stand. »Das muss eine Art Pension sein«, sagte Rhodri leise. »Schau, ein Gästebuch.« Es lag aufgeschlagen auf dem Tisch, der letzte Eintrag war erst ein paar Tage alt. »William?«, rief er wieder, jetzt allerdings lauter. »Bist du irgendwo da oben?«
Dieses Mal ertönte tatsächlich eine Antwort, ein leises Geräusch aus dem oberen Stockwerk.
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