Die Tochter des Königs
Gehirnerschütterung, oder er ist bewusstlos. Könnte es sein, dass er einen Unfall hatte?«
»Ich weiß es nicht! Er hat mich vor einer halben Stunde angerufen und mich gebeten, ihm zu helfen. Wir müssen herausfinden, wo er ist!«, drängte Jess. Sie war bis an die Stuhlkante vorgerutscht. »Bitte versuch’s nochmal. Neulich hast du doch auch gewusst, was mit mir in Wales passiert ist, also musst du es können.«
Carmella vertiefte sich wieder in die Karten. Heute spürte sie nichts von der anderen Frau. Interessierte die sich also nicht für William, sondern nur für Jess und Eigon? Carmella schob eine der Karten nach ganz oben in ihrer Auslage, legte eine zweite daneben und betrachtete beide angespannt. »Ich glaube, um ihn herum ist es dunkel. Entweder er schläft, oder er ist in einem abgedunkelten Zimmer. Ich glaube nicht, dass er verletzt ist. Wenn ich durch seine Augen sehen könnte, könnte ich mir vielleicht
ein Bild davon machen, wo er ist, aber das geht nicht.«
Rhodri beugte sich vor. »Kann er etwas hören?«
Sie schaute auf, als nehme sie ihn zum ersten Mal wahr, dann blickte sie wieder auf die Karten. »Glocken. Er hört Glocken.«
»Ganz nah?« Rhodri schaute unentwegt auf Carmellas Gesicht.
Sie nickte.
»Kirchenglocken oder Uhrenglocken?«
»Eine Kirche. Das Angelusläuten.«
»Gut. Mehrere Glocken oder nur eine?«
»Zwei. Vielleicht auch mehr.«
»Kann er Verkehr hören?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wasser? Einen Brunnen?«
Sie nickte. »Ziemlich leise.«
»Vogelgesang?«
Eine lange Stille, dann lächelte Carmella. »Irgendwo in der Ferne gurrt eine Taube.«
Sie machte die Augen auf und musterte Rhodri. »Woher wissen Sie, welche Fragen Sie stellen müssen?«
Er grinste. »Meine Tante Blodwen ist immer wieder zu einer Hellseherin in Radnor gegangen. Sie lesen die Karten gar nicht, Sie haben sich als Medium in William hineinversetzt.«
Carmella schüttelte den Kopf. »Nein. Ich lese die Karten.«
»Ist doch egal!« Rhodri machte eine wegwerfende Geste. »Das Wichtigste ist, dass wir jetzt ein paar Anhaltspunkte haben. Wir wissen einiges, aber nicht genug, um ihn zu finden. Wir brauchen einen Namen.«
»Aber was, wenn er nicht weiß, wo er ist, Rhodri?«, fragte Jess skeptisch.
»Er weiß es aber. Er hat es dir ja gesagt. Du hast ihn bloß nicht verstanden wegen der schlechten Verbindung, aber der Name war in seinem Kopf. Kommen Sie, Carmella, versuchen Sie’s!«
Carmella runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Es ist zu schwer.«
»Das ist es nicht. Vergessen Sie die dummen Karten. Versetzen Sie sich einfach in ihn!«
Einen Moment sah Jess Zorn in Carmellas Augen aufblitzen, aber dann ließ sie achselzuckend die Hände in den Schoß sinken und lehnte sich entspannt zurück.
Lange Zeit herrschte Stille. Schließlich schüttelte sie wieder den Kopf. »Nichts.«
»Das kann nicht sein.« Rhodri beugte sich vor, nahm Jess’ Hand und reichte sie Carmella. »Verwenden Sie Jess nochmal als Verbindung. William denkt an sie.«
Carmella hob skeptisch die Augenbrauen, tat aber, was Rhodri ihr auftrug, nahm Jess’ Hand in ihre und schloss wieder die Augen.
»›Sie werden mich nie finden!‹«, sagte sie schließlich. »›Guter Gott, was hat er bloß mit mir gemacht?‹«
Jess und Rhodri beobachteten gebannt ihr Gesicht.
»›Mein Handy. Wo ist mein Handy? Ich kann mein Handy nicht finden.‹« Eine Weile herrschte wieder Stille, dann fuhr Carmella fort: »›Jess. Jess wird kommen.‹«
»Sprechen Sie mit ihm«, sagte Rhodri leise. »Sagen Sie ihm in Gedanken, dass wir kommen. Fragen Sie ihn, wo er ist.«
Wieder herrschte lange Zeit Schweigen. »Ich kann’s sehen. Ich kann das Haus sehen. Eine schöne Villa, auf der anderen Straßenseite. Er ist in einem kleinen Schlafzimmer. Oben. Der Kopf tut ihm weh. Die Tür ist zugesperrt. Er sieht die Villa durch das Fenster.«
»Wo ist die Villa? Steht da ein Schild? Ein Straßenschild? Woher weiß William, wo er ist?« Rhodris Stimme war völlig gefasst. Jess schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen, damit ihre Hand in Carmellas nicht zitterte.
»Ich sehe durch seine Augen. Eine lange Auffahrt. Ein breites Tor. Es ist mit einer Kette verschlossen, und daneben hängt ein Schild. Darauf stehen Zeiten. Die Öffnungszeiten der Villa.« Carmella zog die Stirn kraus und schwieg kurz. »Ich kann sie nicht lesen, es ist zu weit weg.« Dann riss sie die Augen auf. »Ich weiß, wo das ist! Ich bin einmal da gewesen.
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