Die Tochter des Königs
die Füße waschen. Aber hier gibt es kein Wasser, und Arzneimittel habe ich auch keine. Meine Tasche ist in dem verlassenen Bauernhaus zurückgeblieben. Eines Tages werde ich Titus für das, was er uns und meiner Mutter und meinem Vater angetan hat, grausam büßen lassen.«
Antonia lächelte matt. »Solche Dinge sollen wir eigentlich nicht sagen. Jesus hat uns aufgetragen, unsere Feinde zu lieben.«
»Offenbar hat er Titus Marcus Olivinus nicht gekannt«, entgegnete Eigon. Vorsichtig schälte sie Antonias Rock von der blutigen Schürfwunde an ihrem Knöchel.
»Au!« Antonia zuckte zusammen. »Kannst du nicht neue Heilmittel herstellen? In diesem Dorf wachsen überall Kräuter.
Und es gibt viele Leute hier, die aussehen, als könnten sie deine Hilfe brauchen.«
»Ich mache mich morgen auf die Suche. Ich bin sicher, dass ich etwas finden kann.«
Seufzend legte sich Antonia auf den Rücken. »Was glaubst du, weshalb dieses Dorf verlassen wurde?«
Eigon schaute auf, sah sich schweigend im Raum um, dann schauderte sie. »Hier war Krankheit. Spürst du das nicht? Krankheit und Angst.«
Antonia starrte sie an. »Jetzt machst du das wieder. Du siehst Gespenster.«
»Es tut mir leid, das ist bei mir schon immer so gewesen. Offenbar ist das eine Fähigkeit, die mein Volk besonders gut beherrscht. Für uns sind die Toten gar nicht tot.«
»Für uns auch nicht.« Antonia sah sie skeptisch an. »Aber Christen glauben, dass sie in den Himmel kommen, sie lauern nicht in dunklen Ecken.«
»Diese Menschen waren keine Christen«, sagte Eigon langsam. Sie legte sich auf ihre Bettstatt und zog eine Decke über sich. »Sie hatten gar keine Götter. Sie glaubten, ihre Götter hätten sie verlassen.«
»Vielleicht sollten wir für ihre Seelen beten«, sagte Antonia nach einer langen Pause. »Würden sie dann weggehen?«
Eigon lächelte. »Dadurch würden sie Frieden finden«, sagte sie. Von irgendwoher wusste sie, dass es stimmte.
»Warum singst du nicht etwas?«, murmelte Antonia nach einer Weile. »Etwas Leises, Stilles. Das würde mir gefallen.«
Eigon lächelte wieder. Das Lied beruhigte sie beide. Bald war Antonia eingeschlafen, und wenig später schloss auch sie die Augen.
Eine ganze Weile später öffnete sie sie wieder und starrte in die Dunkelheit, ihr Herz klopfte wild vor Angst.
Jess drehte sich unruhig auf dem Bett hin und her. Draußen vor ihrem Fenster war es wieder dunkel geworden. Sie sollte aufstehen, sich ausziehen und richtig ins Bett legen, aber dafür war sie zu müde. Sie versuchte, sich zu entspannen, legte den Kopf bequem aufs Kissen und schaute zur Decke. Dann spürte sie es. Dieselbe seltsame Stimmung, die auch Eigon geweckt hatte. Das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden, dass jemand wartend in den Schatten stand.
Jess setzte sich auf.
Füll den Raum mit Licht. Umgib dich mit Licht. Schau dich um. Konzentrier dich. Und wehr dich. Das waren Carmellas Worte gewesen. »Hugo?«, flüsterte Jess. »Bist du hier? Pass auf mich auf, braver Hund.« Sie hörte keine Pfoten auf dem Holzboden. Nichts. Vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett und stand auf. Sie knipste die Nachttischlampe an, dann ging sie zur Tür und drückte auf den Schalter. Dadurch gingen eine Lampe auf der Kommode und eine zweite auf dem Tisch vor dem Fenster an. Jess sah sich im Zimmer um. Ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf. Nichts war bewegt worden, alles fühlte sich normal an. Warm und sicher. Gerade, als sie zum Fenster schaute, flog ein weißer Nachtfalter herein und flatterte laut im Lampenschirm auf dem Tisch herum. Ein Nachtfalter, eine ganz gewöhnliche Motte. Nichts Bedrohliches. Und durchs Fenster war auch keine Gefahr zu erwarten. Es lag viel zu hoch, als dass jemand hereinsteigen könnte. Langsam ging Jess zum Tisch und schaltete die Lampe wieder aus. Sofort hörte die Motte zu flattern auf und ließ sich mit leicht bebenden Flügeln innen auf dem Lampenschirm nieder.
Da war es wieder, dieses Gefühl. Jemand versuchte, sich Zugriff zu ihrem Kopf zu verschaffen. Finger, die sich suchend vorantasteten, die Gehirnwindungen und Synapsen
teilten, so fühlte es sich an. Jess schauderte. Irgendwie musste es ihr gelingen, ihn von sich fernzuhalten. Es musste Titus sein. Aber wie sollte sie sich gegen ihn wehren? Denken, sie musste denken. Ihre ganze Konzentration auf etwas anderes lenken, um Titus zu verwirren. Sie durfte ihm keinen Zugang zu ihren Gedanken gewähren. Er wollte wissen, wo sie war. Natürlich,
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