Die Tochter des Königs
verlassen. Aelius und Flavius hatten alles mitgenommen, das sie bei sich tragen konnten, und waren spurlos verschwunden. Alles Verbliebene hatten die Männer des Kaisers mitgenommen. Die Pferde und alles, was sich verkaufen ließ, sollte versteigert werden. Der Rest war auf Wagen fortgebracht worden. Die Villa wartete auf einen neuen Bewohner. Die Gärten waren überwuchert, die Obstgärten kahl, der Herbstwind hatte die großen Blätter der Feigenbäume über den ganzen Hof geweht.
Nachdem Titus den Bericht erhalten hatte, saß er lange Zeit in Gedanken versunken da. Dann wühlte er finster in seiner Geldtruhe nach einem Beutel mit Münzen. Er nahm eine Handvoll heraus, überlegte kurz und fügte noch einige mehr hinzu, dann warf er sich den Umhang über die Uniform und machte sich auf ins Stadtzentrum. Er würde zu Marcia Maximilla gehen. Sie war klug, sie war schön, sie war habgierig, sie war berühmt. Sie war eine Seherin. Wenn sie denn wollte, würde sie Eigon finden, ohne auch nur ihre Liege zu verlassen.
Kapitel 29
M it einem Ruck war Jess wach. Panisch umklammerte sie die Armlehnen und fragte sich eine Sekunde, wo sie war, dann hörte sie das Dröhnen der Flugzeugmotoren. Sie warf einen Blick zu William. Er hatte seinen Sitz zurückgeklappt, seine Augen waren geschlossen. Als sie aus dem Fenster schaute, konnte sie nichts sehen.
Seufzend schloss sie die Augen wieder. In knapp einer Stunde würden sie in England sein, und dann war ihre Chance, Eigons Geschichte weiter zu erleben, vorbei.
Außer …
Sie versetzte sich in Eigons Vergangenheit zurück, stellte sich das Haus in Rom vor, die friedliche Atmosphäre, die Wärme, die Menschen um sie her. Drusilla, die mit ihrer sanften, freundlichen Art sicherstellte, dass sie allein war, wenn sie Ruhe haben wollte, und Gesellschaft hatte, wenn sie jemanden zum Reden brauchte. Petrus’ Entschlossenheit, als er sie alle aus ihrem Elend und ihrem Kummer herausriss und mit ihnen betete. Die Entscheidung, Rom zu verlassen, die rasche Beschaffung von Passierscheinen, das Sammeln von Geld für ihre Reise. Aber es wollten sich keine Details einstellen, die Bilder gerieten ins Stocken, die Gestalten warteten, dass Jess ihnen die Worte in den Mund legte. Sie drehte den Kopf, starrte in die Dunkelheit hinaus
und spürte, dass sie selbst den Tränen nahe war. »Wo bist du?«, flüsterte sie. »Bitte, zeig’s mir.«
Während die Wellen krachend über dem Deck zusammenbrachen und die stark gerefften Segel durchnässten, kauerten sich die Passagiere in panischer Angst unter Deck aneinander. Ein gutes Dutzend Leute hatte eine Überfahrt auf diesem Handelsschiff gebucht, das mit Vorräten für die Besatzungslegionen gefüllt war; sein Ziel war Massilia in der Provinz Narbonensis an der Südküste Galliens. Ihnen war nicht klar, dass sie in den ersten Herbststurm hinaussteuerten, der wie aus heiterem Himmel über diesem Meeresstreifen aufgezogen war. Drusilla lag, wenn sie sich nicht mit anderen Passagieren in die übelriechenden Eimer erbrach, flach auf dem Rücken und stöhnte. Commios sah sich suchend nach Eigon um.
Er fand sie schließlich an Deck, sie hielt sich an den Wanten fest und sah über die schaumgekrönten Wellen hinaus. Ihre Augen glänzten, ihr Haar, das sich aus den Kämmen gelöst hatte, wehte ihr um den Kopf wie ebenholzfarbene Schlangen. Er ging zu ihr. »Der Kapitän hat befohlen, dass alle unter Deck müssen.«
Sie drehte sich zu ihm. Seine Worte wurden vom Wind fortgetragen, aber sie hätte ihn über das Tosen der Wellen ohnehin nicht verstanden. »Ist es nicht großartig? Ich habe gar nicht gewusst, dass es etwas so Aufregendes geben kann!« Wasser strömte ihr übers Gesicht, ihre Kleider waren durchnässt und klebten an ihr wie eine zweite Haut. Er lachte. Er konnte ihre Worte zwar nicht verstehen, aber er konnte ahnen, was sie gesagt hatte. Es war wirklich großartig hier draußen, fort vom Gestank und Gejammer der anderen Passagiere, und wenn das Schiff kenterte, dann war es zweifellos besser, hier oben im Freien zu sein, ein Teil des
Sturms, als gefangen unter Deck in der Holzkiste, die sich allzu leicht in einen überfluteten Sarg verwandeln konnte.
»Wie weit ist es noch?«, schrie Eigon.
Er zuckte mit den Schultern. Sie hatten so lange kein Land mehr gesehen, dass er unmöglich abschätzen konnte, wie viele Meilen sie bereits zurückgelegt hatten. Genauso gut war es möglich, dass sie wieder nach Ostia zurücktrieben oder über das
Weitere Kostenlose Bücher