Die Tochter des Königs
da vor sich? Er trank noch einen Schluck Cappuccino, wischte sich den Schaum von der Oberlippe und
bestellte einen Prosecco. Jess war spurlos verschwunden. Und er hatte auch keine Ahnung, wo die anderen waren. Er hatte Carmellas Wohnung ausspioniert. Da waren sie nicht und in der Pension auch nicht. Er leerte das Glas und knallte es auf den Tisch.
Und von Titus war auch nichts zu sehen.
Verdammt! Er hieb mit der Faust so plötzlich auf den Tisch, dass die Tasse auf der Untertasse hochsprang. Die Frau am Nachbartisch drehte sich um und starrte ihn an, dann wandte sie sich um und rückte ihren Stuhl so, dass sie ihm den Rücken zukehrte.
»Du kannst mich mal«, brummelte er. Dann stand er auf, warf einige Münzen auf den Tisch und marschierte auf die Straße.
Schweigend sah Titus zu, wie die Frau ihre Orakel befragte. Seherinnen waren teuer, und dies war sein dritter Besuch. Jedes Mal sagte sie ihm gerade genug, um ihn zu überzeugen, dass sie tatsächlich in die Tiefen der Zeit und des Raums jenseits des dunklen Zimmers, in dem sie saßen, blicken konnte. »Ich sehe andere Menschen, Patrizierfamilien, die in diese Geschichten verstrickt sind. Ich sehe zwei Frauen, die sich unterhalten. Sie haben sich mit Eurer Prinzessin angefreundet. Und sie haben Freunde an einflussreichen Stellen. Die sind jenseits Eures Zugriffs.« Sie warf ihm einen unheilvollen Blick zu. »Ich sehe eine Frau, die Euch aus großer Ferne beobachtet, ebenso wie Ihr sie beobachtet.« Sie schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln. Sie hatte diese Frau schon früher gespürt, sie suchte nach der Wahrheit jenseits der Zeit, genau wie sie selbst. Aber sie kam aus einer anderen Ära. Marcia Maximillas Neugier war geweckt. Jetzt wendete sie sich allerdings wieder den praktischen Dingen zu. »Wollt Ihr mehr über die Prinzessin herausfinden?«
Titus bezwang den überwältigenden Drang, der Frau den Hals umzudrehen. »Deshalb bin ich hier, Herrin.«
Mit einem kurzen Blick auf ihn fragte sie sich, ob dies wohl der geeignete Moment war, ihren Preis zu erhöhen. Dann überlegte sie es sich anders und schaute beiseite. In Gegenwart dieses Kunden wurde ihr allmählich unbehaglich zumute. Es war besser, ihm das, was er haben wollte, so schnell wie möglich zu geben und ihn dann wegzuschicken. »Sie ist fort. Über die Meere. Ich sehe raue, aufgewühlte Wellen. Sie stand im Bug des Schiffes, blickte vor sich in ihre Träume. Sie hat Rom für immer hinter sich gelassen.«
Titus ballte die Hände zur Faust. »Sagt mir, wohin sie fährt.«
Zum ersten Mal runzelte die Seherin die Stirn. »Ich sehe sie in Schleier gehüllt. Ihr Schicksal ist unklar. Nein!«, schrie sie, als er sie über den Tisch hinweg an der Schulter packte. »Ich würde es Euch sagen, Herr, wenn ich es sähe. Sie ist ebenfalls eine Meisterin. Sie spürt, dass ich nach ihr suche. Sie hat sich in Nebel gehüllt.«
Er ließ sich auf seinen Sitz fallen. Es war unvernünftig, diese Frau umzubringen. Sie war die Beste, die es in Rom gab. »Aber irgendeinen Hinweis muss es doch geben. Ist sie nach Gallien gegangen? Geht sie nach Britannien zurück?«
Marcia rang immer noch nach Fassung. Sie wollte diesen Mann nur noch loswerden. Sie schaute auf, und ihr Gesicht wurde wieder freundlich. »Jetzt weiß ich es, ihre Gedanken haben sie einen Moment verraten. Sie fährt nach Britannien.«
Ihr fiel kein Ort ein, der in weiterer Ferne lag.
Britannien! Daniel erfasste den Gedanken wie einen grellen Blitz. Sie war nach Britannien zurückgekehrt. Und wenn Eigon sich nach Britannien aufgemacht hatte, dann würde
Jess dasselbe tun. Ein eiskalter Schauer überlief ihn. Er musste schnell nach England, bevor sie dort ankam. Er musste bei ihr sein, bevor sie mit irgendjemandem reden und ihre dummen Vorwürfe und ihre nichtigen Wahnvorstellungen loswerden konnte. Vor allen Dingen musste er sicherstellen, dass sie nicht mit Nat sprach.
Jess’ Auto stand immer noch da, wo sie es auf dem Langzeitparkplatz abgestellt hatte. So viel war passiert, dass es ihr vorkam, als seien seitdem Monate vergangen. Mit dem bezahlten Ticket in der Hand öffnete sie die Fahrertür und stieg ein. Dann ließ sie die Tür zufallen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder sicher.
Nach einer Weile griff sie nach ihrem Handy und wählte Stephs Nummer. Keine Antwort. Sie versuchte es bei Kim. Keine Antwort. Sie widerstand dem Drang, Carmella anzurufen. Sie war jetzt
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