Die Tochter des Königs
Dimension entführt worden war? Sollte das wirklich der Fall sein, würde er ihr folgen müssen. Er ging zum Atelier, die Tür war nur angelehnt. Er trat ein. Dieser Raum stand im Mittelpunkt der ganzen Geschehnisse. An diesem Ort war vor zweitausend Jahren ein Kind grausam vergewaltigt worden, eine Familie war auseinandergerissen, Menschen waren ermordet worden. Ein anderes Kind war gekommen und hatte den Ort verlassen vorgefunden, nur ein paar Blutlachen zeugten vom Grauen. Sie hatte nach ihrer Mutter und ihrer Schwester gerufen und wusste plötzlich, dass sie an einen Ort gegangen waren, an den sie ihnen nicht folgen konnte. Überwältigt vor Angst, hatte sie sich auf die Suche nach ihrem kleinen Bruder gemacht und musste feststellen, dass auch er nicht mehr da war. Er hatte sich zu einer kleinen Kugel zusammengerollt, und sein Geist hatte sich verflüchtigt. Sie war allein.
Plötzlich merkte er, dass Rhodri schweigend in der Tür stand und ihn beobachtete. Er spürte wohl, dass die Gedanken, die Meryn durch den Kopf gingen, nicht unterbrochen werden durften.
»Wie hieß sie gleich, Eigons kleine Schwester?«, fragte Meryn nach einer ganzen Weile.
»Sie haben sie Glads genannt.«
»Gut. Sie braucht einen Namen. Wir müssen herausfinden, was mit ihr passiert ist, nachdem sie den Unterstand verlassen hat. Geben Sie mir noch ein bisschen Zeit, Rhodri.«
Rhodri verschwand, Meryn hörte seine Schritte über den Hof hallen. Dann erstarb das Geräusch, er blieb mit einer unbelebten Stille zurück. Er lauschte. Das arme, verstörte Kind - war sie zu einer Frau herangewachsen, oder war auch sie auf diesem erschreckenden Berg oder in dem gottverlassenen Tal dort unten gestorben?
Gottverlassen. Er schaute zu Boden. Wenn er es recht verstand, war Eigon als Christin aus Rom nach Britannien zurückgekehrt. Durchaus möglich. Die Männer, denen die Christianisierung der britischen Inseln zugeschrieben wurde - Patrick, Kolumban, Augustinus -, waren alle erst sehr viel später gekommen. In einem Reich, durch das sich gut instand gehaltene Handelsstraßen zogen, reisten Ideen so schnell wie das schnellste Pferd. Die Kunde von der neuen Religion würde hier etwa zur gleichen Zeit eingetroffen sein wie in Rom, auf den westlichen Routen übers Mittelmeer vielleicht sogar noch früher. Die Legende, dass Josef von Arimatäa mit dem jungen Jesus der Route des Zinnhandels gefolgt war, ließ sich nicht so ohne weiteres von der Hand weisen. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht die Zeit für solche Überlegungen. Es genügte zu wissen, dass Eigon im Rom Neros, zur Zeit von Petrus und Paulus, gelebt hatte und ihnen begegnet war. Eine Tatsache. Laut Jess.
Jess, wo bist du? Er seufzte.
Jetzt hörte er eilige Schritte im Hof, Rhodri erschien wieder in der Tür. »Falls Sie das auch wissen müssen, der kleine Junge hieß Togo, nach Caratacus’ Bruder, der gestorben war.« Er zögerte. »Müssen Sie immer noch allein sein?«
Meryn warf dem großen, kräftigen Mann einen prüfenden Blick zu. Trotz seiner etwas großspurigen Art war er in vieler Hinsicht sehr einfühlsam: Zu ihm hatte das Kind gesprochen, ihm hatte es sich zu erkennen gegeben. Er schüttelte
den Kopf. »Haben Sie eine Taschenlampe dabei? Dann zeigen Sie mir doch, wo Sie sie gesehen haben.«
Auch als sie durch das Tor traten, war von der Polizei nichts zu sehen. Nach einem knappen Kilometer verließ Rhodri den Pfad. »Ich weiß, dass es hier war. Die verkrüppelte Eibe ist mir aufgefallen.« Er richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Äste eines Nadelbaums. »Dann bin ich hier durch die Rhododendronbüsche gegangen und auf eine Quelle zu. Die habe ich in der Ferne gehört. Daniel ist in die Richtung davongelaufen.« Er deutete mit der Taschenlampe, so dass der Lichtstrahl wild über das Blätterdach tanzte.
»Und die Polizei?« Meryn blieb kurz stehen. »Wo sind die hin?«
Rhodri zuckte mit den Achseln. »Ich habe den Hubschrauber gehört, aber gesehen habe ich niemanden.«
»Wir wüssten, wenn sie noch irgendwo in der Nähe wären.« Meryn machte ein paar Schritte ins Gebüsch und blieb abrupt stehen. Ganz unvermittelt spürte er es. Eine Mauer, eiskalt und abweisend. Er schaute kurz zu Rhodri zurück, der in dem Moment fröstelnd schauderte. Er wirkte beklommen.
»Wir kommen näher, stimmt’s?«, flüsterte Rhodri.
Meryn nickte. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Ja.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich habe versucht, freundlich zu sein. Aber darauf hat
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