Die Tochter des Leuchtturmmeisters
hatte sich vorgenommen, das Zeug an Ort und Stelle zu sortieren und nur das mitzunehmen, was sie behalten wollten, da es andernfalls in ihrem eigenen Keller herumstand. Eifrig machte sie sich an die Sache, nahm eine leere Kiste für das, was mitgenommen werden sollte, eine weitere für alles, was für die Kleidersammlung und den Flohmarkt bestimmt war, und schließlich einen schwarzen Müllsack für den Abfall.
Nach zwei Stunden hatte sie genug. Es wäre besser gewesen, wenn Tomas das Sortieren übernommen hätte, da es doch seine Sachen waren, und Sara beschloss, die mit seinem Namen versehenen sechs Kisten nun doch mit nach Hause zu nehmen. Sie hatte keine Lust, die Kartons in Siris Gesellschaft durchzugehen, und sie wusste, dass die Schwiegermutter bald kommen würde. Mit etwas Umschichten brachte sie die Kisten genau auf dem Anhänger unter, den sie vom Nachbarn geliehen hatte. Die Kinder sollten erst in zwei Stunden von der Kita abgeholt werden, und davor wollte sie daheim alles verstaut haben, eine Dusche nehmen und sich eine Weile aufs Ohr legen.
Sara stellte die Kisten in die Waschküche und hoffte, der muffige Kellergeruch würde nicht auf die frische Wäsche übergreifen, die sich auf der Arbeitsfläche stapelte. Die letzte Kiste war die einzige, in die sie noch keinen Blick geworfen hatte. Sie durchtrennte das Klebeband mit dem Plastikmessbecher vom Waschpulver, der eine erstaunlich scharfe Kante hatte. Zuoberst lagen Babysachen und ein dickes weißes Kuvert. Darunter ein Fotoalbum aus braunem Leder. Sara zog spontan ein Blatt aus dem Kuvert. Der Brief erstaunte sie, er kam von einem Krankenhaus und war obendrein auf Dänisch verfasst.
Am 2. Januar 1964 um 4.38 Uhr war ein Mädchen geboren worden, aber elf Minuten später hatte dieselbe Frau einen Jungen entbunden. Dass Diane dieses Mädchen war, verstand Sara natürlich, was aber war mit dem Jungen passiert? Hatte Diane einen Zwillingsbruder?
»Ist das wirklich möglich?«, sagte sie laut zu sich selbst. Dass Siri das eine Kind behalten, das andere aber weggegeben hatte? Sara fragte sich, wer wohl davon wusste. Waldemar? Sie öffnete das Album und starrte auf das Foto, das sich ihr zeigte. In die Kamera lächelten Siri und der Mann, dessen Arm um ihre nackten Schultern lag. Sara hatte erwartet, Arvid Stiernkvist zu sehen, Siris ersten Ehemann, der unter so tragischen Umständen umgekommen war, aber das hier war ein anderer. Jemand, den sie nur zu gut kannte. Blixten, hier draußen nannte man ihn noch immer so.
Sara überlegte. Siri heiratet Arvid Stiernkvist, wird Witwe, bekommt ein Kind und heiratet noch einmal, diesmal Waldemar? Wo fand da Blixten Platz? Sie schaute auf das Datum unter dem Bild und rechnete den zeitlichen Abstand zwischen der Aufnahme und dem Geburtsdatum nach, das in den dänischen Papieren angegeben war. Nur zu genau stimmte das Ergebnis mit dem Zeitraum überein, den ein Kind für seine Entwicklung braucht. Oder auch zwei Kinder, wenn sie Zwillinge sind.
Es gab noch weitere Fotos im Album, aufgenommen bei einem Zelt. Daneben stand ein Motorrad mit Beiwagen, an dem Siri mit verschränkten Armen lehnte. Die Wiese im Hintergrund war sommerlich. Beim Weiterblättern fand Sara bestätigt, dass die einzigen Personen auf den Bildern Blixten und Siri waren, und sie schienen einander gut zu kennen. Sehr gut sogar.
Sara zog jetzt das letzte Blatt aus dem Kuvert und las es. Es war ein Brief. Ihre Hände zitterten, als sie begriff, was da stand. Mein Gott, dachte sie. Mein Gott, was mache ich jetzt? Sie fuhr etwas zu rasch hoch und konnte sich nicht festhalten, bevor ihr schwarz vor Augen wurde. Im Traum strich ihr jemand über die Stirn. Mit sanften Bewegungen. Sie spürte einen Arm unter ihrem Kopf und hörte eine bekannt klingende Stimme, mit der sie aber nichts anfangen konnte. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass es Markus war. Er strich ihr über die Stirn, und sein Gesicht wirkte besorgt.
»Sara, are you all right?«, fragte er.
Sara machte den Versuch zu nicken, stattdessen aber verzog sich ihr Gesicht vor Schmerz. Markus legte einen Arm unter ihre Knie und schob den anderen vorsichtig um ihren Rücken, um sie hochzuheben. Das gelang ohne Anstrengung, so als würde sie nichts wiegen, und sie spürte die angespannten Muskeln unter seinem Shirt. Er roch gut, frisch geduscht. Markus öffnete die Tür zu seiner Bleibe und trug sie zur Couch. Dann schob er ihr ein Kissen unter den Kopf und holte ein Glas Wasser. Während sie
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