Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
Opfergaben übergaben sie den Tempeldienern oder niederen Priestern, und sie durften die Statuen der Götter sehen, wenn auch nur aus der Entfernung. Sklaven war sogar das verboten, daran erinnerte sich Maru noch zu gut. In Akyr war es so gewesen, und sie nahm nicht an, dass es in Serkesch anders war.
Die westliche Front des Platzes wurde von einem weiteren wuchtigen Gebäude beherrscht. Es hatte nur ein einziges, dreifach mannshohes Stockwerk und war fast völlig schmucklos. Kein Pfeiler, kein Sims, keine Fresken schmückte die grauen Mauern, nur über dem schwarzen Eingang war eine mächtige rote Doppelaxt auf die Ziegel gemalt. Mehr Schmuck duldete Strydh nicht an seinem Haus, das die Budinier deshalb »Haus der Axt« nannten.
Maru hielt Strydh für einen schwierigen Gott. Sie hatte einmal versucht, mit Galbo, einem Jungen, der mit ihr auf den Feldern arbeiten
musste, darüber zu reden. Er hatte erst gar nicht verstanden, was sie meinte, und nur »Strydh ist mächtig« gesagt, so als sei damit alles geklärt. Es war an einem jener drückenden Tage gewesen, wie der Weizenmond so viele brachte: Es war zu heiß, der Tag auf dem Feld schier endlos, und der Gerstenstaub ließ die Kehle austrocknen. Sie hatte ihren Gedanken fortgeführt und gesagt: »Manchmal wünschte ich, Edhil hätte seine Augen zugemacht, als er Hirth erschuf – dann wäre Strydh nie geboren worden.« Der Gedanke war ihr schon lange im Kopf herumgegangen, aber als sie ihn aussprach, wusste sie, dass es ein Fehler war. Galbo hatte sie entsetzt angestarrt und sie danach wochenlang gemieden. Die Geschichte sprach sich herum, und auch die anderen Sklaven fingen an, sie seltsam anzusehen. Ihre weiteren Gedanken über Strydh hatte sie für sich behalten.
Jetzt stand sie vor seinem Tempel und betrachtete die rote Doppelaxt. Die eine Schneide stand für den Ruhm, die andere für den Tod. Strydh konnte einem Menschen beides bringen: ein frühes, armseliges Ende oder Ruhm über den Tod hinaus. So hatte es Maru von den Priestern gelernt. Etwas an dem Bild hatte sie immer gestört, ohne dass sie genau wusste, was es war. Vielleicht, dass die Schneide, die den Tod brachte, viel schärfer schien als jene, die Glanz und Ehre verhieß? Oder war es, weil der Ruhm des einen immer den Tod eines anderen bedeutete?
Sie betrachtete den Furcht einflößenden Tempel des Kriegsgottes, der sich selbst zum Gott der Menschen gemacht hatte. Der Eingang lag im Schatten und wirkte daher äußerst anziehend auf Maru. Es hieß, dass Strydh selbst für die Gebete der Sklaven ein offenes Ohr hatte, auch wenn die Priester ihnen natürlich den Zugang zum Tempel verwehrten. Strydh konnte aus einem Sklaven einen Helden machen – und er hörte den Unfreien und Namenlosen zu, die zu ihm beteten. Maru gab es ungern zu, aber darin unterschied er sich von seinen Geschwistern. Die Hüter schliefen. Es
war selbst für Fürsten und Priester schwer, sie zu erreichen. Kein Sklavengebet durfte der Bitte eines freien Menschen den schmalen Pfad in das Ohr eines Gottes versperren. Strydh dagegen lauschte den Klagen der Menschen, den Fürsten ebenso wie den Sklaven, so hieß es. Doch wenn er ein Flehen erhörte, dann war seine Antwort so zweischneidig wie seine Axt. Und nun stand Maru ganz allein vor seinem Tempel.
In ihrem ganzen Leben hatte sie noch kein Götterhaus betreten. Tasil hatte am Morgen ihr schmales Sklavenhalsband zerschnitten, aber so einfach waren die Götter sicher nicht zu täuschen. Dennoch, der schwarze Eingang lockte. Sie sah sich um. Die Wachen vor dem Palast beachteten sie nicht. Der Hund trottete nach erfolgloser Taubenjagd mit hängendem Kopf durch die Nachmittagshitze. Sonst war kein lebendes Wesen zu sehen. Mit weichen Knien näherte sich Maru dem Eingang. Es gab kein Tor, nur tiefe Dunkelheit unter einem mächtigen Torsturz. Sie spähte angestrengt in die Finsternis, aber drinnen war kein Licht zu sehen. Der Zugang zur Totenstadt Ud-Sror konnte nicht dunkler sein. Noch ein Schritt. Jetzt hatte sie den Schatten erreicht. Noch einer …
Plötzlich schoss eine knochige Hand aus der Finsternis hervor und packte sie am Arm. Eiseskälte durchfuhr sie, als lange Fingernägel in ihr Fleisch schnitten. Maru schrie erschrocken auf.
Dann erschien das uralte Gesicht eines kahlköpfigen Mannes in der Finsternis. Es hatte nur ein Auge. »Wen haben wir denn da?«, fragte eine heisere Stimme.
»Nur … nur ein Mädchen«, stotterte Maru.
»Ein Mädchen möchte das Haus der Axt
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