Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
betreten? Weißt du nicht, dass dies den Kämpfern vorbehalten ist?«
Maru schüttelte stumm den Kopf. Der Schreck saß ihr in den Gliedern. Die Klauen des Alten hielten ihren Arm fest umklammert. »In wie vielen Schlachten hast du denn deine Waffe gezogen?
Wie viel Blut hast du Strydh, unserem Herrn, geopfert? Wie viele Wunden ertragen, wie viele Feinde getötet?
»Noch gar keine«, sagte Maru. Sie versuchte, vorsichtig ihren Arm aus dem eisernen Griff des Alten zu befreien. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Der Alte war nicht größer als sie, das konnte sie sehen. Ganz schwaches Licht schien von den Seiten in den finsteren Eingangsbogen zu fallen. Plötzlich begriff Maru, dass eine schwarze Wand den Gläubigen ebenso wie dem Licht den geraden Weg in den Tempel versperrte.
» Noch keine?« Der Alte lachte ein unirdisches Lachen. »Strebst du etwa nach Ruhm in der Schlacht? Ist dein Platz nicht eher auf dem Feld oder am Herd, Mädchen? Oder bist du eine Viramatai aus dem Eisenland? Nein?« Es klang höhnisch, doch im nächsten Augenblick schlug die Stimme des Einäugigen um in schrille Wut. »Dann beleidige Strydh, den Herrn der Welt, nicht! Schenke ihm Söhne, Krieger, aber tritt ihm nicht unter die Augen, bevor du nicht Witwe bist!«
Die Klaue am Arm lockerte sich eine Winzigkeit. Maru ahnte es mehr, als sie es sah: Der Alte holte mit einem Stock aus. Sie riss sich los und rannte davon. Der Schlag ging ins Leere, und der Alte krächzte einen Fluch hinter ihr her. Sie rannte davon bis zur Ecke des Tempels. Hier, zwischen Strydhs Haus der Axt und dem Stufentempel der Hüter gab es einen schmalen Torbogen. Er war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Sie schlüpfte schnell hindurch und stieß heftig mit einem Mann zusammen. Beide stürzten, und irgendetwas zerbrach.
»Bei den Hütern! Kannst du nicht aufpassen, Dummkopf?«, schimpfte eine Männerstimme.
Maru rappelte sich auf. Ihr war nichts passiert. Der andere saß auf dem Boden und hielt einen Stapel Tontafeln ängstlich umklammert. Einige waren jedoch seinem Griff entglitten und auf dem Boden zerschellt. Es war ein junger Mann mit rundlichem Gesicht.
»Es tut mir leid«, murmelte Maru. Dieser Tag schien verflucht zu sein. Jede Begegnung war schlimmer als die vorige.
»O nein, die Berichte!«, jammerte der Sitzende.
»Ich helfe dir«, sagte Maru, und sie begann, die zerbrochenen Tonscherben aufzuheben.
Der Mann rührte sich nicht, sondern sah traurig auf die Bruchstücke getrockneten Tons, die Maru ihm reichte.
»Schatir wird nicht erfreut sein. Er wird überhaupt nicht erfreut sein.«
»Wer ist das?«
»Du bist nicht von hier, oder? Schatir ist der Erste Schreiber des Raik. Er sitzt zur Rechten des Hohen Verwalters und hat sein Ohr.«
Maru besah sich die Tontafeln näher. Zeichen waren darauf eingeritzt, ein wirres Durcheinander von Linien, die auf den zweiten Blick einer geheimnisvollen Ordnung zu gehorchen schienen: Schrift, die Zauberei der Akkesch, wie sie es in Akyr genannt hatten. Der Mann sah aber gar nicht aus wie ein Zauberer, er hatte ein rundes, freundliches Gesicht, das jetzt in tiefen Sorgenfalten lag. »Du kannst schreiben?«, fragte Maru.
»Schreiben und lesen, das kann ich, wenn man mich lässt. Doch du hast meine Arbeit zunichte gemacht.«
»Es sind nur zwei oder drei Tafeln. Du hast doch noch viel mehr.«
Der Schreiber schnaubte verächtlich: »Hirth möge mir beistehen! Ist eine Woche vollständig, wenn zwei Tage fehlen? Du bist außerordentlich dumm, scheint mir!«
Maru bedachte den Mann mit einem langen Blick aus ihren grünen Augen.
Der senkte verlegen den Blick. »Verzeih, Mädchen, es ist ja auch meine Schuld. Ich hätte eben besser aufpassen müssen. Doch jetzt sind die Berichte unvollständig, und ich muss sie erneut schreiben –
wenn das überhaupt möglich ist.« Endlich legte er die Tafeln, die er so ängstlich umklammert gehalten hatte, zur Seite und besah sich die Scherben, die Maru ihm reichte. »Taidh aus Albho brachte sechzig Lasten... doch sechzig Lasten von was und wann?«, flüsterte er unruhig. »Du hast alles durcheinandergebracht!« Er hob einige andere Bruchstücke auf, hielt sie an das erste, legte sie wieder weg und suchte hektisch nach dem nächsten.
Maru sah eine Weile zu, dann beschloss sie, dem Mann zu helfen. Offenbar sah er vor lauter Linien das Offensichtliche nicht. Die Tontafeln waren zerbrochen, doch anstatt nach dem passenden Text war es sicher einfacher, nach der
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