Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
Der Dhanis war ein langer Strom mit zahlreichen Windungen, und viel konnte unterwegs passieren. Wieder ein anderer meinte, es sei unnütz, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, denn es werde kommen, wie das Schicksal es vorgesehen habe.
Ein Krieger mischte sich ein. Sein Gesicht trug die Narben vieler Schlachten. »Ihr redet wie die Weiber. Frieden? Frieden macht uns nur schwach. Wir hatten seit Jahren keine echten Kämpfe mehr, weder mit den Hakul, noch mit den Budiniern. Ich glaube nicht, dass Strydh sich das noch lange ansehen wird.«
»Du bist ein elender Schwarzseher, Felai, so viel ist sicher. Außerdem sind unsere Krieger jeden Herbst in den Stillen Hügeln, und sie kämpfen doch mit den Budiniern!«
»Pah, diese Scharmützel? Meist marschieren die Heere doch nur wochenlang hin und her, ohne dass es überhaupt zur Schlacht kommt. Strydh lacht darüber. Er verlangt Blut als Opfer – und ich glaube, wir werden es ihm bald in Strömen anbieten.«
Maru ging weiter. Vielleicht hatte der Narbengesichtige sogar recht, dachte sie. Solange die Hüter schliefen, war Strydh der Herr dieser Welt. Er war ungeduldig. Sein Zorn konnte Städte und Menschen zermahlen wie Gerste. Sie lief ans Ende der Mole, verscheuchte die düsteren Gedanken und versuchte, das, was sie gehört hatte, zu ordnen. Würde Tasil mit dem, was sie erfahren hatte, zufrieden sein? Sein Auftrag war so völlig verschieden von dem, was sie bisher in ihrem Leben gemacht hatte. Das war etwas ganz anderes, als stundenlang Reisig, Kräuter oder Holz zu sammeln. Es war viel besser als Erntearbeit und Brotbacken. Andererseits
wusste man beim Kräutersammeln immer, wie gut die Ernte gewesen war. Jetzt war sie sich nicht sicher, ob ihr Herr zufrieden mit dem Ertrag ihrer Arbeit sein würde.
Sie blieb stehen. Die Sonne schien, über dem Fluss wehte eine angenehme Brise – und niemand war da, der sie zur Eile trieb. Es war ein sehr eigenartiges Gefühl. Am Ende der Mole gab es einen zweistöckigen Wachturm, der, gemeinsam mit einem gleich gebauten Gegenüber, die Einfahrt überwachte. Maru lief dorthin, setzte sich an den Rand der Mole, ließ die Füße baumeln und starrte in das graublaue Wasser des Stroms. Vielleicht würde Dhanis ja wirklich zu ihr sprechen, wie es Biredh gesagt hatte. Sie fragte sich, wie der Alte wohl seine Augen verloren haben mochte. Ob es in einer Schlacht geschehen war?
Sie entdeckte Schwärme kleiner Fische im Wasser. Sie zuckten die Hafenmauer entlang und schienen Nahrung zu suchen. Ab und zu tauchte ein größerer Schatten zwischen ihnen auf, vielleicht ein Raubfisch. Dann zerstreuten sich die Schwärme in Windeseile, nur um sich Sekunden später wieder zusammenzufinden. Dann suchten sie wieder die Hafenmauer ab, bis der nächste Räuber auftauchte und sich das Ganze wiederholte. Fasziniert schaute Maru dem Spiel zu.
Plötzlich erschien noch ein Schatten im Wasser, größer, viel größer als jeder Raubfisch. Maru wurde kalt. War das eine Flussechse? Sie hatte noch nie eine gesehen, doch jeder in Akyr wusste, dass sie unvorsichtige Menschen fraßen. Doch das da unten sah nicht aus wie eine Echse. Er war wie eine dunkle Wolke, die langsam nach oben stieg. Maru schlug das Herz bis zum Hals. Der Schatten hatte die Wasseroberfläche fast erreicht. War das ein Mensch? Langsam tauchte ein kahler Schädel aus dem Wasser auf. Er war menschenähnlich, aber ohne Ohren, braunrot und mit seltsamen blauen Mustern bedeckt. Zwei Augen von der Farbe polierten Kupfers musterten sie. Der Kopf verschwand wieder, und die Gestalt glitt
unter Wasser näher heran. Dann stieg der Schädel erneut empor. Er war jetzt weniger als vier Schritte vom Kai entfernt. Maru war wie gelähmt.
»Ich grüße dich, Maru Nehis«, sagte der Kopf mit einer Stimme, die sanft und silbrig klang wie Wellenschlag.
War das...? Nein, das konnte nicht sein! Trotzdem fragte Maru, und sie konnte nicht verhindern, dass sie stotterte: »Bist du … bist... bist du Dhanis?«
Das Wesen legte den Kopf ein wenig auf die Seite, als müsse es nachdenken. Dann sagte es schließlich: »Nein.«
Maru schielte nach links und rechts, aber niemand war in der Nähe. Sie war allein mit dem Dunklen im Wasser. »Du bist ein Alfskrol«, sagte sie so ruhig wie möglich, als sie sich einigermaßen gefasst hatte.
Die kupfernen Augen verengten sich. »Viele Stämme gaben mir viele Namen. Daimon kannst du mich nennen. Utukku war ich früher.«
»Du siehst aber aus wie ein Alfskrol«, erwiderte
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