Die Tochter des Magiers 01 - Die Diebin
entfernt. Auch auf anderen Hütten war Leben, Menschen saßen im Licht von Laternen oder kleinen Feuern und unterhielten sich. Es gab sicher viel zu bereden für die Serkesch. Die Stimmung schien eigenartig gedämpft. Angst lag über der Stadt, Maru konnte das spüren. Am Horizont zeigte sich haarfein die Sichel des neuen Mondes. Zikaden zirpten, und Fackelträger wanderten die Stadtmauer auf und ab. Es war eine laue Sommernacht, ebenso mild wie die vorige. In Akyr hatten sich die Sklaven in solchen Nächten um die Feuer versammelt und Geschichten erzählt in Stunden, in denen das Leben leicht und das harte Tagwerk weit weg schien. Zum Beispiel Geschichten über Maghai, die neugierige Menschen in Mäuse verwandelten.
Die nächsten Dächer lagen allesamt in Dunkelheit, was Maru seltsam erschien. Es war, als sei um die Hütte des Zauberers ein Kreis von Schweigen und Dunkelheit gezogen. Vorsichtig kroch sie weiter. Von unten schimmerte Licht in dünnen Streifen durch die geschlossene Dachluke. Sie schlich näher heran. Die Klappe war aus Holz, und zwischen den einzelnen Brettern war genug Platz, um hindurchzuspähen. Der Maghai würde sie durch einen geschlossenen Eingang nicht bemerken können, oder?
Maru schob sich langsam nach vorne und spähte hinunter. Dutzende Kerzen erhellten den Raum. In der Mitte saß der Maghai vor einem großen Weidenkorb und murmelte ohne Unterlass in einer Sprache, die sie nicht verstand. Manchmal klang es vertraut, dann wieder völlig fremd. Irdene Töpfe standen neben dem Maghai, sein Stab lag neben ihm. Rauchschwaden zogen durch die Luft. Sie quollen aus kupfernen Tiegeln, die auf dem Herdfeuer standen. Der Weidenkorb war offen, etwas bewegte sich darin. Der Maghai hob die Stimme und senkte sie wieder. Maru presste ihr Gesicht näher an die Luke. Es war der Leib einer Schlange, hellbraun, mit rotbraun gezacktem Muster, der sich in unruhigen Bewegungen durch den Korb wand.
Der Maghai steckte eine Hand in einen schwarzen Topf und zog sie wieder heraus. Eine gelbliche Flüssigkeit troff von seinen Fingern. Er steckte die Hand in den Korb und bestrich die Schlange damit. Die Bewegungen der Schlange wurden schneller. Der Zauberer hob seine Stimme, stieß einige unverständliche Laute aus, streckte die Hand aus und – hielt plötzlich inne.
Maru fühlte ein leichtes Prickeln in den Fingern und Zehen, erst ganz fein, dann stärker. Es breitete sich aus, kroch die Arme und Beine empor, ergriff den ganzen Körper. Sie fühlte Eis, das ihr Rückgrat emporzuwachsen schien. Es verschlug ihr den Atem. Plötzlich sah sie Tasil. Er saß auf dem Dach. Er saß auf einer Grabstele. Er reinigte seinen Dolch mit Sand. Sie sah ihn, und sie sah ihn nicht. Denn sie hätte den Kopf heben müssen, um ihn sehen zu können, aber sie konnte sich nicht bewegen. Er konnte auch nicht auf dem Dach sitzen, denn dort gab es weder Grabstelen noch Sand. Und doch saß er da, mit geschlossenen Augen, und reinigte mit gedankenverlorener Bewegung seine Hakul-Klinge.
Ein Brennen lief ihr über das Gesicht, ihr Blick trübte sich, und weißer Nebel war alles, was sie noch sah. Sie hätte geschrien, wenn sie gekonnt hätte, sie wäre aufgesprungen und davongerannt, wenn
sie noch Gewalt über ihre Glieder gehabt hätte – aber sie war gelähmt. Ihre Lungen wurden taub, sie konnte nicht mehr atmen. Sie konnte den Kopf nicht bewegen, sie konnte es nicht sehen, aber sie fühlte , wie sich das Fleisch ihres ganzen Körpers in grauen, verwitterten Stein verwandelte.
Mit einem Mal war da der Schmerz. Er kroch aus ihrem Genick in den Kopf, bohrte sich tief in den Schädel, wurde stärker, unerträglich und – löste sich plötzlich in nichts auf. Eine Träne floss aus ihrem Auge und fiel, scheinbar endlos lange, bis sie auf einem der Hölzer der Dachluke zerstob. Dann war da eine Stimme: »Reiß dich zusammen, Maru!«
War das … Tasil?
»Wer sonst, du nutzlose Kröte? Kannst du dich beherrschen? Oder wirst du schreien, wenn ich loslasse?«
Loslassen? Maru fühlte eine weitere Träne, die über ihre Wange lief und fiel. Auch sie tropfte auf eine der Latten. Unter ihr bestrich der Maghai die Schlange wieder mit der gelben Flüssigkeit. Die Schlange bewegte sich ruhig und langsam. Maru konnte wieder atmen, aber es war mühsam, so als würde ihr jemand die Kehle zuschnüren und ihr gerade genug Luft zum Atmen gönnen. Sie konnte sich immer noch nicht rühren.
»Wo bist du? Zeige mir, was du siehst!«, sagte Tasils Stimme. Sie
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