Die Tochter des Magiers 02 - Die Gefährtin
was hatte sie zu verlieren? Sie erreichte den Hafen. Das Gatter zum Fluss war verschlossen. Die Boote lagen an Land. Es waren keine Fischer draußen. Dort, auf seinen Schilfbündeln, saß Wifis. Sein breiter Schilfhut lag neben ihm. Sein graues Haar hing wirr im Gesicht. Wie stets blickte er starr ins Nichts. Maru sah sich um. Die Wachen hatten sich wirklich unter die Hütten zurückgezogen.
Wenigstens den Hut hätten sie ihm doch aufsetzen können , dachte sie. Maru seufzte. Der Alte tat ihr leid. Sie konnte seine Verzweiflung fast körperlich spüren. Sie lief zu ihm und reichte ihm seinen Hut. Er nahm ihn und blickte sie verwirrt an. Sie half ihm, ihn aufzusetzen. »Hast du meine Söhne gesehen?«, fragte er.
Maru schüttelte den Kopf.
»Sie müssen bald zurück sein«, sagte Wifis.
»Kann ich dich etwas fragen, ehrwürdiger Wifis?«, fragte Maru. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie die Hakul. Diese hatten sich wieder einen halbwegs trockenen Dachüberstand gesucht und beobachteten sie. Die Wachen hockten missmutig im Trockenen und beachteten sie gar nicht. Wahrscheinlich sahen sie nur ein Mädchen, das dem alten Mann seinen Hut gab. Der Regen war auf ihrer Seite. Wifis starrte wieder auf den Fluss hinaus. Maru war sich nicht sicher, ob er ihre Frage überhaupt gehört hatte. Sie wiederholte sie, etwas lauter.
»Fragen?«, antwortete Wifis mit zittriger Stimme.
Maru legte ihre Hände wie eine Muschel an das Ohr des Ältesten und fragte: »Weißt du, wo der Goldene Tempel ist?«
Wifis zuckte mit dem Kopf erschrocken zur Seite. War sie vielleicht zu laut gewesen? Sie blickte nach links und nach rechts. Die Wachen starrten immer noch gelangweilt in den rauschenden Regen.
»Ich weiß nicht, wann meine Söhne wiederkehren«, antwortete Wifis unsicher.
Maru versuchte es noch einmal: »Nicht deine Söhne. Der Tempel. Im Sumpf. Weißt du, wo er ist?«
Jetzt huschte ein verklärtes Lächeln über Wifis’ Gesicht. »Tempel«, sagte er. »Ich werde es meinem Ältesten verraten, wenn er wieder hier ist. Hast du ihn gesehen?«
Es war ungefähr so schwierig, wie sie erwartet hatte. Sie griff zu
einer Lüge. Sie hätte es nicht getan, wenn sie nicht so verzweifelt gewesen wäre. »Er ist zum Tempel gefahren. In den Sumpf. Sag mir, wo das ist. Dann hole ich ihn.«
Wifis schüttelte den Kopf. Verwirrung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. »Aber er weiß es nicht. Er fährt vorbei, immer weiter. Auf das Meer. Aber wir fahren nicht auf das Meer.«
Das war ein Hinweis, oder? Der Tempel könnte irgendwo zwischen dem Dorf und dem Meer liegen. Maru biss sich auf die Lippen. Sie würde hinterher den Göttern ein Opfer bringen müssen. Es war grausam, den Alten zu belügen. Wieder sprach sie ihm direkt ins Ohr: »Vielleicht rastet er. Ich kann für dich nachsehen, wenn du willst. Sag mir, wo ich den Tempel finde.«
»Aber das kann ich nicht«, sagte der Alte, und plötzlich kicherte er albern. »Wer bist du nur, dass du das nicht weißt? Niemand spricht darüber.«
Das war zu wenig. Sie musste einfach mehr in Erfahrung bringen. Maru sah noch eine Möglichkeit: »Kann mir Dwailis sagen, wo ich den Tempel finde? Oder Wika?«
Wifis warf ihr einen verschmitzten Blick zu, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das können sie nicht. Wollen sie nicht, dürfen sie nicht. Wika schon gar nicht, Dwailis erst recht nicht. Drauf spucken kann er. Sagen kann er nichts.« Der Blick des Alten trübte sich wieder ein. »Willst du mit mir warten, Mädchen? Meine Söhne kommen bald zurück. Stramme Burschen. Einem Mädchen müssen sie gefallen. Und verheiratet sind sie alle nicht.« Und dann kicherte er vergnügt.
Es war herzzerreißend. »Nein, ehrwürdiger Wifis. Ich kann leider nicht mit dir auf deine Söhne warten. Ich bitte dich um Verzeihung.«
Der Alte schien beleidigt zu sein. Er verschränkte die Arme vor der Brust und kehrte Maru wie ein schmollendes Kind den Rücken zu. Maru legte ihm zum Abschied die Hand auf die Schulter
und ging. Dwailis kann darauf spucken . Sie hatte also doch noch etwas erfahren. Wohl fühlte sie sich nicht. Sie hatte den hilflosen alten Mann überlistet. Am Abend würde sie sich lange reinigen und dann die Götter sehr innig um Verzeihung bitten müssen. Sie rückte ihren Strohmantel zurecht und machte sich auf den Weg. Sie folgte dem Wehrzaun am Ufer, denn sie wollte den Hakul nicht zu nahe kommen. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass die beiden ihr weiterhin gemächlich folgten. Sie hoffte,
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