Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
um sich nicht zu stoßen, und schien in vielem das genaue Gegenteil jenes Mannes zu sein, der Maru festhielt. Er überragte ihn um mehr als Haupteslänge, und sein dichtes schwarzes Haar war sorgsam in dicke Zöpfe geflochten. Ein langer, ebenfalls sorgfältig geflochtener Bart fiel ihm auf die Brust. Hellgrau war sein Gewand und sah so sauber und neu aus, als habe er es eben erst erworben. Auch er führte einen langen Stab, der jedoch schlicht und ohne jeden Schmuck war. »Was gibt es, Velne?«, fragte er. »Noch mehr Schmutz und Unordnung?«
Hinter ihm zwängte sich ein weiterer Mann aus der Tür. Er war viel jünger als die beiden und schleppte zwei schwere Taschen. Maru hielt ihn auf den ersten Blick für einen Diener, aber an der Art, wie er an den Lippen der beiden Maghai hing, sah sie, dass er vermutlich eher ein Sipai, ein Schüler war. Dabei war er sicher schon einige Jahre älter als sie selbst.
»Nein, Klias, keinen Schmutz«, meinte der Zauberer, der Velne genannt worden war, »aber vielleicht etwas Unordnung.«
»Du kannst mich jetzt loslassen, Herr«, bat Maru vorsichtig.
»Oh, verzeih, Mädchen, ich war so überrascht«, sagte der Maghai und ließ sie los.
»In der Tat, ungewöhnlich«, murmelte Klias, der näher herangetreten war und mit kühlem, grauen Blick Maru musterte.
»Kann ich gehen? Ich werde erwartet!«, bat Maru.
»Eigentlich«, erwiderte Velne lächelnd, »bist du eher das Unerwartete.«
Maru zog sich vorsichtig zwei Schritte zurück.
»Bist du denn so in Eile, Mädchen?«, fragte Velne im Ton echten Bedauerns. »Ich würde gern ein wenig mit dir plaudern.«
Aber das war nur, was ein zufällig vorbeischlendernder Krieger hören würde. Da war noch eine andere Stimme, honigsüß, die Maru zuflüsterte, dass sie sich doch ausruhen und von dem Schrecken erholen solle. Die zweite Stimme! Maru fühlte unendliche Müdigkeit in ihre Glieder dringen. Sie blieb stehen. Ihre Beine waren schwer wie Blei.
»Hast du keine Zeit, drei Fremden, die weit entfernt sind von ihrer Heimat, etwas Gesellschaft zu leisten?«, fragte der Maghai freundlich. Und seine andere Stimme versprach ihr, sie von all der Last befreien zu können, die auf ihrer armen Seele lag. Maru schüttelte den Kopf. Was wusste er von ihren Lasten? Es war ein Zauber, verführerisch, aber wenn sie sich zusammenriss, konnte sie widerstehen. Dann spürte sie noch etwas, noch heimlicher und versteckter als die Zweite Stimme. Maru fror, und das Atmen fiel ihr schwer. Der Stimmzauber war nur ein Schleier, eine Ablenkung von dem Zauber, den der Maghai jetzt anwendete! Sie spürte ihn, spürte seine Gedanken. Wie kalte Klingen drangen sie in die ihren ein. Gleichzeitig lächelte er sie so freundlich an, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Er vermittelte einem Außenstehenden
sicher den Eindruck größter Harmlosigkeit, während sie das Gefühl hatte, dass er mit Leichtigkeit ihren Geist zerteilte, so wie ein Schlachter Fleisch vom Knochen schneidet, um nach den besten Stücken zu suchen. Erinnerungen stiegen auf, ungeordnet und wirr; aus der Stadt, Temu, das Bet Schefir, Tasil, die Gassen der Unterstadt, Hardis, die Fahrt über den Fluss. Sie wusste nicht, wie sie ihn aufhalten sollte. Dann wirbelten andere Bilder aus der Tiefe nach oben – aus dem Wasserland, von ihrem Ritt mit Tasil, aus Serkesch. Ein unscharfer Strudel flüchtiger Eindrücke. Scheinbar mühelos drang der Maghai immer weiter vor. Da fiel Marus Blick plötzlich auf seine Hand, die den Stab umklammert hielt. Die Finger zitterten, und die Knöchel waren weiß verfärbt. Also strengte es ihn doch an! Daran richtete sie sich auf. Sie versuchte, ihn abzuwehren. Die Bilder verblassten. Jetzt hörte sie ein wortloses Flüstern, das an dem Zugang zu ihren innersten Gedanken kratzte wie ein Bittsteller an einer Tür. Sie sammelte sich. Diese Pforte wollte sie nicht öffnen. Sie erinnerte sich mit Schrecken daran, wie einst Tasil dort eingedrungen war. Doch der hatte über eine geheimnisvolle Speise diese Verbindung herstellen müssen, und sein Zugriff war roh und brutal gewesen, weil Tasil es nicht besser wusste. Das hier war wie ein feines Schneiden – der Zauberer wusste genau, was er tat, und er ging behutsam vor. Sie verweigerte sich. Aus der Bitte wurde jetzt eine bohrende Forderung. Es begann weh zu tun, der Schmerz steigerte sich, bis Marus Kopf dröhnte – und ganz plötzlich war es vorbei. Sie öffnete die Augen. Jemand hatte den Maghai
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