Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
Sie begriff, dass in all diesen Nebengebäuden Götter verehrt wurden, auch Götter, die Numurs Söldner aus ihren Heimatländern mitgebracht hatten. Sie betraten den fünfeckigen Haupttempel. Von außen merkte man dem Bau an, wie eilig er errichtet worden war – die Serkesch hatten wohl einfach nicht damit gerechnet, dass die Belagerung so viele Monde dauern würde. Im Inneren hatten die Baumeister mehr Sorgfalt walten lassen: Die Holzwände waren ordentlich verputzt und mit strengen Ornamenten verziert. Jede Seite, außer der Türseite, war einem der vier Hüter, der ersten Götter, gewidmet. Zur Linken fand sich der Wolkenherrscher Fahs, daneben die blumenhaarige Hirth. Ihr folgte der Herdhüter Brond, und rechts von der Pforte bildete die wasserspendende Alwa den Abschluss dieses Kreises. In der Mitte aber thronte auf einer stämmigen Säule der mächtige Strydh, der Gott des Krieges.
»Ich frage mich, ob es hier auch einen Tempel für Uo gibt«, raunte Tasil Maru leise zu. Sie waren nicht alleine in der Gebetshalle. Einige Krieger legten den Göttern Kräuter und Blätter in die Opferschalen. Weißgekleidete Priester achteten auf die Einhaltung der vorgeschriebenen Rituale und hielten die heiligen Flammen in Gang. Es war sehr ruhig. Die Krieger wirkten abgezehrt und die Priester unzufrieden. Vielleicht fürchteten sie, dass die kümmerlichen Opfer kaum ausreichen würden, die Hüter gnädig zu stimmen.
»Der Tempel Uos befindet sich zur Rechten dieses Hauses«, sagte eine bekannte Stimme hinter ihnen. Abeq Mahas war eingetroffen, begleitet von einigen bewaffneten Abeqai. Maru hatte noch nie Priester in Waffen gesehen, aber sie erkannte, dass diese Männer das Handwerk des Krieges sicher gut verstanden. Ihre Schädel waren, wie bei allen Abeqai, kahl rasiert. Sie waren kräftig, und einer von ihnen war von mehreren Narben auf dem Oberarm gezeichnet, die auf Kampfverletzungen hindeuteten. Ob sie auch als Priester taugten, war eine andere Frage.
»Lasst uns allein, ihr Männer, ich habe wichtige Dinge mit Strydh zu besprechen«, rief Mahas laut.
Die Krieger erhoben sich und verließen widerspruchslos den Tempel.
»Ihr auch, meine Brüder«, schickte der Abeq die Tempelpriester hinaus. Sie waren überrascht, aber sie gehorchten. Nur die bewaffneten Abeqai blieben.
»Ich bin erstaunt, dass Utu andere Götter neben sich duldet«, eröffnete Tasil das Gespräch.
»Solange ihm die notwendige Ehrerbietung zuteil wird, ist er ein großzügiger Gott«, antwortete Abeq Mahas, »doch glaube ich nicht, dass du mich hier treffen wolltest, um über die Götter zu sprechen, Urather.«
»Da hast du recht und unrecht, ehrwürdiger Abeq, denn natürlich
habe ich ein anderes Anliegen, doch frage ich mich, ob das, was wir hier bereden, vor jenem Gott, dessen Augen ihr verkauft habt, Bestand haben wird.«
Abeq Mahas lachte. »Wie ich sehe, bist du stets noch damit beschäftigt, Öl ins Feuer zu gießen, auch wenn du etwas erreichen willst, das vom guten Willen anderer abhängt. Doch will ich mich nicht mit Kindereien aufhalten, Tasil aus Urath. Wenn du ein weiteres Angebot hast, so solltest du es sagen.«
Tasil lächelte. »Wie du es wünschst, Ehrwürdiger. Was ich dir zu sagen habe, stammt nicht aus dem Munde des Kaidhans, wie ich bereits andeutete. Immit Uschparu ist ein kluger Mann. Er wusste, dass Numur das Angebot Lubans niemals annehmen würde. Welcher Fürst von Verstand würde das? Doch hofft er, einen anderen Weg zum Frieden zu finden. Und er bat mich zu prüfen, ob du ihn vielleicht auf diesem Weg treffen willst.«
Mahas blickte Tasil mit seinem verbliebenen Auge finster an. Die Anspielung auf den Geisteszustand des Alldhans war ihm nicht entgangen. »Weiter«, sagte er knapp.
»Bevor ich jedoch die Gedanken Uschparus preisgebe, muss ich wissen, ob Numur auf eurer Seite das letzte Wort von Gewicht in dieser Frage gesprochen hat – oder ob sich die Waagschale vielleicht noch ein wenig bewegen lässt.«
»Wir wären nicht hier, wenn es nicht so wäre«, beschied ihm Mahas knapp.
Tasil nickte und fuhr fort: »In diesem Fall lautet Uschparus Angebot wie folgt: Das Reich soll an Numur fallen, der Kaidhan behält lediglich die Stadt Ulbai und das Umland sowie den Zugang zum Meer. Er ist bereit, die Oberhoheit des Alldhans anzuerkennen. Jedoch wird er euren Kriegern den Zugang zu seiner Stadt weiterhin verwehren.«
Die Kriegerpriester warfen sich schnelle Blicke zu. Sie waren offenbar ebenso überrascht wie Maru.
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