Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
großen Saals. Maru folgte ihm ungeduldig durch die mit Körben zugestellten Regalreihen. Draußen wurde es hell, sie musste sich beeilen. Aber es war sinnlos, Temu zu drängen. Er erreichte endlich den Tisch und begann murmelnd Tafeln hin und her zu schieben. Die eine oder andere nahm er in die Hand und prüfte sie.
»Ah, sieh nur, im ersten Jahr der Herrschaft von Namad-Etellu haben die Fischer im Schwarzen Dhanis mehr gefangen als je zuvor. Ein Glück verheißendes Zeichen.«
»Temu!«, mahnte sie.
Er warf ihr einen tadelnden Blick zu, offensichtlich enttäuscht über ihren Mangel an Begeisterung, und legte die Tafel zur Seite. Dann hob er eine andere auf. »Ah, hier ist es. Etellus Bericht vom Langen Marsch der Akkesch. Dritte Tafel. Soll ich es vorlesen? Gut. Hier steht: › Im Gebirge Imuledh sprach Etellu mit den Zauberern der Imricier. Er versprach ihnen edles Erz für ihre Hilfe, und gemeinsam webten sie einen Bannfluch, der das Böse fortan von ihnen fernhielt. Die Imricier verlangten nun Gold für ihre Hilfe, Etellu aber gab ihnen Silber, denn etwas anderes hatte er nicht versprochen.‹« Temu senkte die Tafel und sah sie erwartungsvoll an.
»Das ist alles?«, fragte Maru enttäuscht.
»Ja, Etellu ist hier sehr bescheiden. Geradezu seltsam bescheiden, wenn man den Rest seiner Berichte kennt. Aber du kennst sie ja nicht. Hier zum Beispiel, da schildert er eine Schlacht im Silberland, wo er selbst …«
»Temu!«, unterbrach ihn Maru. »Wenn ich Zeit hätte, würde ich dir stundenlang zuhören, doch der Tag bricht an, und mein Onkel erwartet mich. Versuch doch bitte, mehr über diesen Bannfluch herauszufinden, wenn du die Zeit aufbringen kannst.«
»Wenn es dir so wichtig ist, natürlich, doch verstehe ich nicht …«
»Ich werde es dir gerne noch einmal erklären, doch nicht jetzt. Ich muss fort.«
Als Maru durch die Tür trat, holte sie erst einmal tief Luft. Sie mochte den Schreiber, aber er trieb sie manchmal auch zur Verzweiflung. Sie wollte gar nicht wissen, wie lange er die Tafel schon auf seinem Tisch liegen hatte. Die ganze Nacht hatte sie ihm geholfen, Listen zu ordnen, und sich geduldig alles Mögliche vorlesen lassen. Aber diese eine Tafel, auf die es ihr ankam, die hatte er einfach vergessen. Sie seufzte. Im Grunde genommen hatten diese kargen Sätze ihr nur bestätigt, was sie schon wusste. In jeder Kaschemme erzählte man sich diese Geschichte, mal in einer längeren, mal in einer kürzeren Fassung. Und immer war Etellu ein strahlender Held – mit Zaubermacht, von der die armseligen Berg-Maghai nur träumen konnten. Und wenn Maru nachfragte, warum er sie denn dann überhaupt um Hilfe gebeten habe, hatte sie bestenfalls finstere Blicke zur Antwort erhalten. Etellu war der Erste Kaidhan, der größte Herrscher, der je auf Erden gewandelt war. Das musste als Antwort genügen. Und kein dahergelaufenes Mädchen aus der Fremde hatte das Recht, seine Heldentaten zu hinterfragen. Maru hatte es inzwischen aufgegeben, denn ganz offensichtlich
wussten diese Erzähler einfach nicht mehr über die Sache. Sie atmete noch einmal tief durch. Es war angenehm kühl. Ob es sinnvoll wäre, noch einmal zurückzugehen und Temu an ihre zweite Bitte zu erinnern? Sie bezweifelte es. Er schien schon mit einer Aufgabe überfordert. Und sie hatte auch keine Zeit mehr, der Morgen graute. Sie musste laufen. Das Bet Schefir lag im nördlichen Viertel der Oberstadt von Ulbai, inmitten vieler prachtvoller Wohnhäuser. Hier wohnten die Großen der Stadt, die nicht im Bet Kaidhan oder einem der Tempel zu Hause waren. Hohe Verwalter, reiche Großpächter, mächtige Kaufleute. Es war ein ruhiges Viertel, vor allem jetzt, in der Stunde der Morgenstille. Türen und Fenster waren verschlossen, manche für die Nacht, manche dauerhaft, weil ihre Besitzer tot oder geflohen waren. Maru entdeckte an einer der Türen ein Stück schwarzen Stoffs. Sie schauderte und rannte weiter. Es war nicht weit bis zum nächsten Turm der oberen Mauer. Er wurde Der Großvater genannt, weil er der älteste Turm der Stadt war, angeblich noch von den Dhaniern errichtet. In friedlicheren Tagen sollte er den Verliebten der Stadt als heimlicher Treffpunkt gedient haben. Maru erreichte ihn und hastete die steinerne Treppe empor. Sein Alter und seine Geschichte waren ihr gleich. Er war nicht besetzt, das war das Entscheidende. Die Kydhier und später die Akkesch hatten die Oberstadt ausgebaut und die Mauer nach außen verschoben, so dass der
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