Die Tochter des Magiers 03 - Die Erwählte
Akkesch vor nun schon über hundert Jahren die Stadt eingenommen hatten, hatten sie sich als Erstes darangemacht, sie weiter zu sichern. Sie hatten einen breiten Kanal durch
die Hügel gegraben, dicht unter der nördlichen Mauer. Ein gewaltiges Unterfangen, aber es hatte sich ausgezahlt. Fortan war die Stadt auf allen vier Seiten von Wasser umgeben. Maru glaubte den Ulbaitai, die sagten, dass die Stadt uneinnehmbar sei. Numur und seine Serkesch waren angetreten, das Gegenteil zu beweisen, aber bislang ohne Erfolg, wie alle ihre Vorgänger. Das Horn erklang nicht wieder, und es stieg auch kein weiterer Pfeil auf, also hatte sich die Lage offenbar wieder beruhigt. Maru gähnte und wandte sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu. Da – ein Licht blinkte aus dem Wolfsfenn herüber. Zwischen den Weiden, genau dort, wo es sein sollte, flammte es auf, verlosch wieder und blinkte erneut herüber. Maru war sich ziemlich sicher, dass dieser kleine Lichtpunkt von keinem der anderen Türme zu sehen war. Tasil hatte den Punkt damals mit viel Bedacht ausgewählt. Sie eilte hinab auf die nächste Plattform im Inneren des Turmes. Hinter einem Haufen von Wurfsteinen, aufgeschichtet für den Fall, dass es dem Feind doch gelänge, die äußere Mauer zu überwinden, war eine Fackel verborgen. Als sie das Holz hervorzog, flogen Fliegen und Stechmücken auf, die einzigen Tiere, von denen es in der Stadt noch reichlich gab. Sie spähte nach links und nach rechts. Zum Glück war die innere Mauer nur schwach bewacht. Sie entzündete die Fackel und hielt sie dicht an die schmale Schießscharte, zog sie zurück, hielt sie wieder an die Öffnung und wiederholte diesen Vorgang noch zweimal. Dann löschte sie die Flamme wieder und spähte hinaus. Zweimal flackerte es kurz unter den fernen Weiden auf. Die Botschaft war angekommen.
Maru lief durch die kühlen Gassen. Ulbai erwachte nur widerstrebend zu neuem Leben. In der Unterstadt war sicher schon mehr Betrieb, aber hier oben blieb es noch still. Es war, als scheuten sich die Bewohner davor, aufzuwachen. Die Nacht mochte Träume unterschiedlichster Art bringen, angenehme und düstere, der helle
Tag aber hatte den Menschen wenig außer Hunger und Verzweiflung zu bieten. Maru hörte das schwere Rumpeln eines Karrens. Sie beeilte sich. Sie wollte unbedingt vor dem Gefährt am Bet Kaidhan sein. Auf der Hauptstraße holte sie es ein. Es war ein Ochsenkarren, doch wurde er von einem Mann gezogen – lebende Ochsen gab es in Ulbai schon seit vielen Wochen nicht mehr. Der Mann war groß und breitschultrig und seine Arme muskelbepackt. Er trug einen grauen Umhang, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Er sah nicht nach rechts und nach links und hielt auch nicht an, obwohl Maru an mindestens zwei Türen das schwarze Zeichen des Verhängnisses angeschlagen sah. Der Karrenschieber ächzte unter seiner Last, und die schweren Scheibenräder knarrten auf der Achse. Ein dickes Wolltuch war über die Ladefläche gezogen und verdeckte den Inhalt fast vollständig. Sie überholte den Wagen und sah Füße, die unter dem Tuch herausragten. Sie achtete auf Abstand und drehte sich nicht um. Es war zwar kein Mensch auf der Straße, aber Tasil hatte ihr eingeschärft, jederzeit auf der Hut zu sein. Niemand drehte sich nach einem Leichenkarren um, also sollte sie das auch nicht tun. Sie lief weiter, über den gro ßen Edhil-Platz, durch das Tempeltor und dann die Stufen zum Haus des Herrschers, dem Bet Kaidhan, entlang. Es war nicht ein Haus, es waren viele, in der Mitte ein mächtiger, steinerner Block, umgeben von vielen Anbauten, Höfen, Säulengängen, Sälen und Kammern, eigenen Tempeln, Ställen, Werkhallen und Lagern. Maru folgte einem gepflasterten Weg, der durch die breiten Stufen schnitt und sie über einen kleinen Hof zu einem unscheinbaren Anbau führte. Dort an der Tür stand Tasil. Er schien auf sie zu warten.
»Na endlich, Kröte. Hast du Gybad gesehen?«, begrüßte er sie.
»Guten Morgen, Onkel«, antwortete sie verdrossen. »Du kannst ihn doch schon hören. Er wird gleich hier sein.« Tatsächlich war das Rumpeln des schweren Karrens unüberhörbar.
»So empfindlich?«, erwiderte Tasil mit einem Grinsen. »Mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden?«
Maru zögerte. Sie hielt es für besser, ihm nicht zu sagen, wo sie die Nacht verbracht hatte. Aus dem Bet Kaidhan drangen leise Geräusche. Die Herren mochten noch schlafen, aber die Diener und Sklaven hatten schon zu tun. Schließlich sagte
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