Die Tochter des Praesidenten
englische Ausgabe von T. S. Eliots Vier Quartette. »Sie mögen Gedichte?«
»Ich mag Eliot. Er versteht es, Tiefsinniges ganz schlicht zu sagen – ›in unserem Ende liegt unser Anfang‹ und so weiter«, zitierte er nicht ganz korrekt und blieb an der Tür noch einmal kurz stehen. »Der Boß will nicht, daß Sie sein Gesicht sehen, also erschrecken Sie nicht.«
Nachdem er gegangen war, trank sie ihren Kaffee aus, schenkte sich eine zweite Tasse ein und zündete sich eine weitere Zigarette an. Eine Weile lief sie im Zimmer auf und ab und versuchte, eine Erklärung zu finden, aber das alles ergab einfach keinen Sinn. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und als sie sich umwandte, würde die Tür ge öffnet.
David Braun trat zur Seite, um einen Mann vorbeizulas sen, dessen Anblick ihr einen Schreck einjagte. Er schien etwas über einen Meter achtzig groß, hatte breite Schul tern und trug einen schwarzen Overall, dazu eine schwar ze Kapuze, die sein ganzes Gesicht bedeckte und nur Schlitze für Mund und Augen freiließ. Eine so finster wir kende Gestalt hatte sie noch nie im Leben gesehen.
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Comtesse. Ich bedaure all die Unannehmlichkeiten.« Sein Tonfall war unverkennbar amerikanisch mit Bostoner Akzent.
»Mein Gott, Sie sind Amerikaner! Ich dachte, es seien Israelis, die mich entführt haben, als ich hörte, daß sie hebräisch miteinander sprachen.«
»Meine liebe Comtesse, die Hälfte der Israelis spricht Englisch mit amerikanischem Akzent. Die meisten von uns haben schließlich dort studiert – an den besten Uni versitäten der Welt.«
»Ach ja?« sagte sie. »Das ist Ansichtssache.«
»Oh, ich vergaß. Sie waren ja in Oxford und an der Universität von Paris.«
»Sie sind gut informiert.«
»Ich weiß alles über Sie, Comtesse – alles.«
»Und ich weiß nichts über Sie, beispielsweise nicht mal Ihren Namen.«
Durch den Schlitz für den Mund schimmerten seine Zähne, als er lächelte. »Judas, nennen Sie mich Judas.«
»Sehr biblisch, aber leider eine etwas unglückliche Wahl.«
»Ja, ich weiß, was Sie meinen – Judas, der Christus ver raten hat.« Er zuckte die Schultern. »Aber dafür gab es handfeste politische Gründe. Judas Iskariot war ein Zelot. Er wollte sein Land von den Römern befreien.«
»Und Sie?«
»Ich will mein Land von allen Bedrohungen befreien.«
»Aber was, um Himmels willen, habe ich damit zu tun?«
»Später, Comtesse, später. In der Zwischenzeit wird David sich darum kümmern, daß Sie gut versorgt wer den. Sie bleiben natürlich auch zu den Mahlzeiten hier drinnen, aber falls Sie gern etwas Besonderes wünschen, sagen Sie es ihm nur. In den Regalen finden Sie reichlich Bücher, und Sie können sich mit Ihrer Malerei beschäfti gen. Wir unterhalten uns demnächst wieder.«
Braun öffnete die Tür und folgte ihm nach draußen, wo Judas die Mütze abstreifte und sich mit den Fingern durch das kurzgeschorene kupferfarbene Haar strich. Er schien um die Fünfzig, hatte ein kräftiges Gesicht mit ho hen Wangenknochen und blaue Augen und strahlte eine nervöse Vitalität aus.
»Kümmere dich um sie, David. Sie soll alles haben, was sie will.«
»Betrachte es als erledigt.« Braun zögerte. »Sie ist nett. Hast du wirklich vor, die Sache durchzuziehen, wenn du nicht erreichst, was du willst?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Judas. »Wirst du etwa weich, David?«
»Natürlich nicht. Unsere Sache ist gerecht.«
»Eben, und das behalte immer im Auge. Wir sehen uns später.«
»Gibt es Neuigkeiten von Aaron und den anderen bei den?«
»Er hat sich über Funk aus Salinas gemeldet. Alles läuft wie geplant, David. Es wird klappen. Vertrau mir nur«, lächelte der Mann, der sich Judas nannte, und ging da von, während Braun ins Zimmer zurückkehrte.
Marie stand am Fenster und wandte sich um.
»Ist der große böse Wolf wieder weg?«
Er ignorierte ihre Bemerkung. »Ich weiß, daß Sie keine Vegetarierin sind. Heute abend steht auf dem Speiseplan frischer Seebarsch, gebackene Kartoffeln, gemischter Salat und anschließend Obst. Wenn Sie sich aus Fisch nichts machen, gibt es statt dessen Lammragout.«
»Sie klingen wie ein Kellner, aber es ist mir alles sehr recht.«
»Ich bin nicht nur der Kellner, sondern auch der Koch. Möchten Sie Weißwein?«
»Nein, ich habe mich nie
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