Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
Unterkunft sorgen müssen. Wahrscheinlich wären sie bloß im Weg.
Seit Monaten waren keine Nachrichten aus Kyushu eingetroffen. Niemand wusste, was da unten vorging.
Die ganze Zeit hatte Taka dagegen gekämpft, alles zurückzulassen, was sie kannte und liebte, und nach Kagoshima zu gehen. Das war das Schicksal, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte. Und jetzt geschah genau das. Es war ein Schritt in den Abgrund.
»Kann ich … kann Okatsu auch mitkommen?«, flüsterte sie, entsetzt über die Unermesslichkeit des Ganzen.
»Natürlich. Die Dienerinnen kommen mit.«
Taka blickte sich in dem großen Raum mit den bleichen, nach Reisstroh duftenden Tatamimatten um, schaute zu dem westlichen Polstersofa hinten im Raum, auf dem nie jemand saß, zu den antiken Truhen, dem Kohlebecken mit dem darüber hängenden Kessel, dem niedrigen Tisch, den Öllampen und Kissen, dem polierten, hölzernen Treppenaufgang zum oberen Stockwerk, sog die Essensgerüche aus der Küche ein. Das hier war für mehr als ihr halbes Leben ihr Zuhause gewesen. An die vom Krieg verwüsteten Straßen von Kyoto oder die lange Reise von Kyoto nach Tokyo konnte sie sich kaum mehr erinnern. Und jetzt sollten sie sich von hier aus auf eine weitere Reise begeben, viel länger und schwieriger, an einen Ort, den keiner von ihnen kannte.
Und Nobu. Hier im Haus war sie von Erinnerungen an ihn umgeben gewesen. Solange sie hier war, hatte immer noch die Möglichkeit bestanden, dass er sich mit ihr in Verbindung setzte. Wenn sie von hier fortgingen, würde es unmöglich für sie sein, ihn zu finden, oder für ihn, sie zu finden.
Vielleicht, dachte sie, konnte sie ihm eine Nachricht schicken. Sie würde einen Brief schreiben, und Okatsu würde ihn zum Postamt bringen. Das wäre, als würde sie beim Obon-Fest eine Laterne aufs Wasser setzen, um den Geistern der Vorfahren auf ihrem Weg Licht zu spenden. Der Brief mochte ihn erreichen oder auch nicht, aber es war alles, was ihr noch übrig blieb. Doch wohin sollte sie ihn schicken? Der einzige Ort, an dem er sein könnte, war die Militärakademie auf dem Gelände der kaiserlichen Armee.
Aber ihr Vater war ein Staatsfeind, praktisch ein Geächteter. Die Menschen verunglimpften ihn als Verräter.
Es ging nicht mehr um den Norden gegen den Süden, das erkannte sie jetzt. Die alte Zeit, an die sich ihre Mutter so liebevoll erinnerte, war längst vergangen. Nun stellten sich die ehemaligen Kollegen ihres Vaters gegen ihn. Sie alle hatten sich in Rebellion erhoben und zusammen in einem Krieg gekämpft, doch ihre Ziele waren unterschiedlich. Und als die Regierung ihre Reformen umzusetzen begann, war ihr Vater immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass alles, was sie taten, gegen das verstieß, wofür er stand – den Kodex der Samurai, die alten Werte. Seine Kollegen waren entschlossen, die Vergangenheit abzuwerfen, der Zukunft entgegenzugehen und sich dabei die eigenen Taschen zu füllen – so hatte es zumindest ihr Vater gesagt. Aber was ihn betraf, bewegten sie sich zu schnell und in die falsche Richtung.
Als sie sich in jener Sommernacht mit Nobu im Garten traf, hatte er sie gewarnt: Deine Familie und meine sind Feinde. Während er bei ihnen arbeitete, hatte ihre Familie zu den wohlhabenden Herrschern gehört, seine zu den verarmten Besiegten, die ums Überleben kämpften. Doch nun war es ihr Vater, der ein Rebell war. Und die bitterste Ironie von allem war, dass Nobu, einst der Unterlegene, sich der Armee angeschlossen hatte, deren Aufgabe es sein würde, die Rebellion niederzuwerfen. Die Welt stand kopf, doch eines hatte sich nicht geändert. Ganz gleich, was passierte, sie standen immer noch auf gegnerischen Seiten, dazu verdammt, für immer getrennt zu sein.
Um sie herum begannen die Dienstboten mit dem Packen. Taka stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt.
Teil IV KEIN ZURÜCK
22
Kagoshima. Elfter Monat, Jahr der Ratte, neuntes Jahr der Meiji-Ära (Dezember 1876)
»Jaaaaa!«
Ein markerschütternder Kampfschrei ertönte, sodass Eijiro ins Stolpern geriet und beinahe sein Übungsschwert fallen ließ. Bevor er sich fangen konnte, sauste das Schwert des Ausbilders auf seines, und das Krachen von Holz auf Holz hallte von den Hügeln wider. Eijiros Knie gaben nach, und er schwankte schwer atmend. Er überragte zwar den kleinen, schlanken Ausbilder, doch das verschaffte ihm nicht den geringsten Vorteil.
Die beiden
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