Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
aufgeschlagen hat und entschlossen ist, uns auszuhungern? Das alles wissen wir bereits.«
»Soll ich ihn töten?«
»Lass ihn in Ruhe. Er tut nur seine Pflicht.«
»Er ist ein Aizu, Vater. Er ist unser Feind. Er würde uns töten, wenn er könnte.«
»Er empfindet Treue für seinen Clan, genau wie wir für den unseren.« Er wandte sich an Nobu. »Wie heißt du, Junge?«
Nobu fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nobuyuki Yoshida, Herr.« Seine Stimme war nur ein Krächzen.
»Gebt dem Jungen was zu trinken.« Der hochgewachsene Offizier tauchte neben Nobu auf und drückte ihm eine Flasche in die Hand. Nobu nahm einen kräftigen Schluck, dachte, es wäre Wasser, und meinte zu ersticken, als ihm der feurige Alkohol durch die Kehle rann. Er hustete krampfhaft.
»Bist wohl nicht an unser örtliches Gebräu gewöhnt. Wir haben leider kein Wasser, nur Shochu.« Der General lachte. »Wie ich höre, hast du eine Botschaft für mich.«
Nobu spürte neue Lebenskraft, als der Alkohol seinen leeren Magen erreichte und bis in die Fingerspitzen ausstrahlte. Er tastete in seiner Jacke herum und fand den Brief, zerknittert, aber unversehrt. Er erhob sich halb und reichte ihn Kitaoka.
Der General glättete den Brief und hielt ihn ein Stück von den Augen entfernt. Dann runzelte er die Stirn, kniff die Augen leicht zusammen, führte den Brief näher heran und las langsam. »Weißt du, was darin steht, junger Yoshida?«
Nobu verneigte sich respektvoll und schüttelte den Kopf.
»›Aritomo Yamagata, Euer vertrauter Freund, richtet dieses Kommuniqué ergebenst an seinen verehrten Kameraden Masaharu Kitaoka‹«, las er und schaute Nobu aus seinen großen Augen an. »Es stimmt, Yamagata und ich sind alte Freunde. Wir haben in den Nordkriegen gekämpft und waren zusammen in der Regierung. Ich bezweifle, dass er die Armee gegen mich führen wollte, aber er ist ein Mann, der seine Pflicht kennt. Weiter schreibt er: ›Wie erbarmenswürdig Eure Lage ist! Ich trauere über Euer Ungemach umso heftiger, da ich ein mitfühlendes Verständnis für Euch habe.‹« Er las die gedrechselten Sätze mit sonorer Stimme.
»Das kann er nicht selbst geschrieben haben. Er hatte eine gute Ausbildung, unser Yamagata, aber er war nie stilvollendet. Das ist das Werk eines berufsmäßigen Schreibers.« Er wandte sich wieder dem Brief zu. »›Seit mehreren Monaten waren wir in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, beide Seiten erleiden täglich hunderte Verluste, Freund tötet Freund, Clanbruder muss sich an Clanbruder messen, und doch kämpfen die Soldaten ohne Arg. Die kaiserlichen Truppen führen ihre militärische Pflicht aus, während die Satsuma loyal für Kitaoka kämpfen.‹ Das stimmt alles. ›Ein Ende all dessen liegt nur in Euren Händen. Ich bitte Euch, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, die Kämpfe zu einem Abschluss zu bringen, sowohl um zu zeigen, dass Ihr die gegenwärtige Situation nicht herbeigeführt habt, als auch um die Verluste auf beiden Seiten so rasch wie möglich zu beenden.‹«
Stirnrunzelnd hielt er inne. »›Alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, die Kämpfe zu einem Abschluss zu bringen …‹ Was meint er damit wohl, junger Yoshida? Er ist viel zu gerissen, es in Worte zu fassen, aber er gibt mir damit die Möglichkeit, ehrenvoll zu kapitulieren, nicht wahr? Sag mir, was würdest du tun? Würdest du kapitulieren?«
Mit jedem Schluck Shochu wurde Nobu kühner. Er sah den General an. Mit diesen freimütigen Augen und dem allwissenden Blick konnte man sich schwer vorstellen, dass dieser Mann irgendjemandes Feind war, ganz zu schweigen davon, die Gewalt und das Blutvergießen der letzten Monate gebilligt zu haben – und doch hatte er es getan. Nobu konnte verstehen, warum Männer ihn wie einen Gott verehrten, ihm blind folgten, alles taten, was er befahl. Aber er erkannte auch, dass Kitaoka menschlich war. Vielleicht hatten andere Männer die Flamme entzündet, die diese schrecklichen Ereignisse in Gang gesetzt hatten, vielleicht war er davon mitgerissen worden und nicht fähig gewesen, sie aufzuhalten.
Auf die Frage des Generals gab es für einen aufrechten Samurai nur eine Antwort: »Nein, Herr, keine Kapitulation. Sich zu ergeben, ist unehrenhaft. Eine ehrenhafte Kapitulation gibt es nicht.« Aber das zu sagen, bedeutete, diese Männer zum Tode zu verurteilen. Vielleicht wollte General Yamagata seinem alten Freund wirklich eine letzte Chance geben, ihrer aller Leben zu retten.
Nobu blickte zu
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