Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
ein lang gezogener, melancholischer Schrei, und Äste knackten, als sich Affen durch die Bäume schwangen. »Ich habe keinen Besucher erwartet, aber nachdem du einmal hier bist, habe ich eine Botschaft, die du mit zurücknehmen sollst. Nicht für Yamagata. Du bist ein Aizu. Ich habe den Fall von Aizu-Wakamatsu nicht gesehen – ich war nicht dort –, doch ich habe von euren Frauen gehört, wie tapfer sie gekämpft haben und wie mutig sie gestorben sind.«
Nobu zuckte zusammen, aber die Zeit hatte den Schmerz gedämpft.
Kitaokas Stimme war polternd. »Dies ist meine Bitte. Finde meine Familie – meine Frau, meine Geisha, für die du in Tokyo gearbeitet hast, und meine Tochter. Gib ihnen dies.« Er zog einen Fächer aus dem Ärmel. Kuninosuké war an seiner Seite, hielt einen Pinsel und einen flachen Stein mit einem Tropfen Tusche. Der General entfaltete den Fächer, schrieb ein paar Worte darauf, wedelte ihn zum Trocknen hin und her, faltete ihn zusammen und reichte ihn Nobu. »Sag ihnen, du hast mich gesehen, und ich sei frohen Mutes gewesen. Sag ihnen, wir sind tapfer gestorben.« Wieder hielt er inne und schaute Nobu an. »Ich befürchte, wenn wir sterben, werden sich meine Frauen ebenfalls töten. Sie könnten es bereits getan haben.«
Die so dicht mit Bäumen, Bambus, Flechten und Ranken bewachsenen Felsen schwankten, als wären sie kurz davor, über Nobu zusammenzustürzen. Die abgerissenen, bärtigen Männer mit ihren Gläsern voll klarem Alkohol verschwammen vor seinen Augen. In seinen Ohren war ein Brüllen, als wollte sich der Boden unter ihm öffnen und ihn verschlingen. Heftig blinzelnd starrte er den General an. Er konnte wohl nicht richtig gehört haben. Bestimmt war er vom Shochu berauscht.
Über seinen eigenen Tod hatte Kitaoka ganz gelassen gesprochen, doch nun war sein Gesicht sorgenvoll zerfurcht. Seine Augen waren riesig, als suchte er schon in der Unterwelt nach seinen Frauen. Seine Worte hingen in der Luft. Sie könnten es bereits getan haben …
Zitternd holte Nobu Luft. Die Frauen seiner Familie hatten sich alle selbst getötet, statt von den siegreichen Satsuma entehrt zu werden. Das konnte doch nicht noch einmal passieren. Bestimmt würden die Kitaoka-Frauen nicht das Gleiche tun. Aber sie waren genauso stolz und entschlossen, wie es die Frauen seiner Familie gewesen waren. Und wenn sie sich selbst töteten, wenn sie sich getötet hatten, bedeutete es, dass Taka … Taka …
»Ich dachte, ich könnte nichts für sie tun, aber jetzt sehe ich, dass es doch möglich ist. Rette sie, Yoshida. Sonst gibt es niemanden, der das könnte. Versuche sie zu finden, versuche sie davon abzuhalten.« Die Stimme des Generals war drängend, flehend. »Falls sie bereits tot sind, sorge bitte dafür, dass sie mit den angemessenen Ritualen eingeäschert werden. Wir Männer mögen den Krähen zum Fraß dienen, aber ich möchte, dass meine Frauen in Frieden ruhen.«
Blindlings sprang Nobu auf die Füße. In seinem Kopf drehte sich alles. Er hatte die Prügel vergessen, spürte keinen Schmerz mehr. Jetzt kam es nur noch auf eines an: Taka.
»Ich muss gehen«, keuchte er, seine Stimme ein entsetztes Wimmern. »Ich muss sofort gehen.«
»Kuninosuké«, befahl der General, »geleite diese beiden sicher zu ihren eigenen Linien zurück. Vergiss nicht, wenn ihnen etwas zustößt, wirst du dich vor mir verantworten müssen.«
Aber Nobu hörte ihn kaum, als er hügelabwärts rannte. Äste wollten ihm den Weg versperren, Wurzeln und Steine wollten ihn ins Stolpern bringen, doch nichts konnte ihn aufhalten. Seine Gedanken flogen ihm voraus. Eine tödliche Gewissheit hatte ihn ergriffen, drückte sein Herz zusammen, bis er fast nicht mehr atmen konnte, und verwandelte das Blut in seinen Adern zu Eis. Er wagte den Gedanken nicht einmal zu formulieren. Wenn die Götter Erbarmen hatten, ließen sie ihn Taka rechtzeitig finden.
38
Die Sonne war bereits untergegangen, und es war fast dunkel. Hinter den Bäumen zog sich ein tiefroter Streifen über den Himmel, als Taka den steinigen Pfad zur Lichtung auf der Bergkuppe hinaufstieg. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, schob Zweige, Farne und Büschel hoher Gräser beiseite. Die Stadt lag unter ihr, wenngleich man sie kaum noch eine Stadt nennen konnte – ein unbewohntes Trümmerfeld, auf dem nichts darauf hinwies, dass es einst von Menschen besiedelt worden war, nun übersät mit Lichtern und Kochfeuern der Armeelager.
Seitlich davon erhob sich eine dunkle Felswand –
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