Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
er hatte eine andere gefunden oder vielleicht, vielleicht …
Nicht einmal in Gedanken wagte sie, ihre schlimmsten Befürchtungen in Worte zu fassen, vor Angst, wenn sie auch nur daran dächte, würden sie dadurch wahr werden. Taka stöhnte und drückte die Stirn auf die kühle Erde, richtete sich langsam auf und stieß einen Seufzer aus. Ihr ganzes Leben erstreckte sich vor ihr, öde und leer. Sie trocknete ihre Wangen mit den Ärmel ab und bemühte sich um Fassung. Sie würde den Hang hinunter zu Madame Kitaoka, ihrer Mutter und Tante Kiharu laufen müssen. Sie musste lächeln und fröhlich aussehen, auch wenn sie alles verloren hatte.
Doch nun ging der Krieg zu Ende. Nobu hatte gesagt, er werde kommen und sie finden, wenn es vorbei sei, und bald – am kommenden Tag – würde es so weit sein. Dann würde sie es genau wissen. Entweder würde er kommen oder nicht, und wenn er nicht kam, würde sie wissen, dass er tot war, und sie würde trauern können. Denn wenn er lebte, selbst wenn er stark verwundet war, würde er kommen, dessen war sie sich sicher.
Und wenn er zurückkehrte, dachte sie, würde er sie nicht erkennen. Sie war nicht mehr die hellhäutige junge Frau, die er in Erinnerung hatte. Statt westliche Kleider mit bauschigen Röcken oder bestickte Seidenkimonos trug sie jetzt ausgebeulte Hosen aus Hanf und eine weitärmelige, indigoblaue Jacke aus grober Baumwolle wie eine Bäuerin. Sie grub, pflanzte und erntete, sie schlug Holz und machte Feuer, sie konnte Kaninchen und Tauben in Fallen fangen, Pilze und Wildbeeren finden und verteilte sogar Fäkalien auf den Äckern. Ihre weichen Hände waren schwielig und voll tief sitzendem Dreck. Doch ganz gleich, wie schwer sie arbeiteten, sie hatten alle nicht genug zu essen. Wenn sie sich im angelaufenen Spiegel ihrer Mutter betrachtete, sah sie einen hungrigen Geist, braun und dürr, nur Haut und Knochen und riesige Augen. Sie war zu einer Tochter geworden, auf die ihr Vater stolz sein konnte, dachte sie wehmütig. Er hatte das bäuerliche Leben geliebt.
Groß und rund ging der Mond hinter dem Sakurajima auf, einen Schleier aus schwarzer Asche vor seinem Gesicht. Taka versuchte das Kaninchen auszumachen, das auf der Mondoberfläche Reiskuchen zerstieß. Noch zwei Tage, dachte sie, bevor der Kreis voll war und aussah wie ein Spiegel in einem Shintoschrein. Sie dachte daran, wie sie in Tokyo den Erntemond gefeiert, seine Spiegelung im Teich bewundert, Gedichte geschrieben und dicke weiße Yamskuchen verspeist hatten, während Musikanten stilvolle Musik auf Flöten und Kotos spielten.
In diesem Jahr würde es keine Feierlichkeiten geben. Hier oben in ihrem Bergversteck kam das einzige Licht von den Feuerstellen der Armeefeuer und das einzige Geräusch von den Geschützen.
Ein Donnern ließ die Luft erzittern, und Blitze erhellten den dunklen Berghang, an dem sich das Lager ihres Vaters befand. Der Beschuss hatte wieder begonnen.
Dann schwiegen die Geschütze, und in der Feuerpause meinte Taka, einen fernen, unerwarteten Klang zu hören. Sie hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Dann fing sie es wieder auf.
Das konnte nicht sein – doch es war so. In der Ferne spielte jemand die Biwa.
Jetzt war es nicht mehr zu überhören – Musik wehte durch die stille Nacht über das Tal herüber, schwach, aber deutlich. Sie hörte Männerstimmen singen und erkannte das Lied – »Der Herbstmond«, voll süßen Bedauerns über das Ende des Sommers. Das hatten sie oft gesungen, als ihr Vater noch in Tokyo war. Dann hörte sie die dünnen Töne einer Flöte, und der Rhythmus wechselte zu einem Schwerttanz, wild und trotzig. Sie sprang auf die Füße und lachte laut, als es ihr klar wurde.
Das waren nicht die Soldaten im Armeelager, die sich auf den letzten Angriff vorbereiteten, auch nicht die Menschen, die in Erwartung des Kriegsendes allmählich in ihre zerstörten Häuser zurückkehrten. Die Musik kam überhaupt nicht aus der Stadt. Sie kam vom Shiroyama.
In ihrer Eile über Steine und Wurzeln stolpernd, rannte Taka zu dem kleinen, strohgedeckten Bauernhaus auf halber Höhe des Berghangs zurück. Für gewöhnlich waren Stimmen zu hören und die Silhouetten der Menschen zu sehen, die sich drinnen bewegten, aber heute Abend war es seltsam still. Kerzen flackerten hinter den Shoji.
»Sie spielen Musik auf dem Shiroyama«, rief sie. »Und sie tanzen!«
Eine Eule heulte, und Fledermäuse stoben von den Bäumen auf. Bei Takas Ankunft in Kagoshima war Frühling gewesen,
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