Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
für uns tanzen?«, fragte sie an Fujino gewandt.
»Es ist unsere letzte Nacht«, baten die Tanten. Sie meinen ihre letzte Nacht in West-Beppu, nicht ihre letzte Nacht auf Erden, redete Taka sich ein. Sie durfte sich nicht von ihrer Phantasie forttragen lassen. »Bitte, den ›Dojoji‹, ja?«, riefen sie im Chor. Takas Mutter verbeugte sich würdevoll und stand auf.
»Musume Dojoji« war der schönste und dramatischste aller Tänze im Geisha-Repertoire und der Tanz, für den ihre Mutter berühmt war. Fujino lächelte, und Taka sah im Feuerlicht die Umrisse des Gesichts, das ihr Vater so geliebt hatte. »Ich bin aus der Übung«, murmelte sie. »Seit meinem letzten Auftritt sind Jahre vergangen. Ich habe weder meinen breitkrempigen, scharlachrot und goldenen Hut noch meine neun Kimonos und das Schlangenhautgewand, also müsst ihr euch alles dazudenken. Wir haben nicht mal ein Shamisen, aber wir haben wenigstens eine Biwa.«
Kiharu schlug ihre dünnen Beine unter, nahm die Biwa und zupfte eine Melodie. Das schwermütige Trillern erfüllte die stille Luft. Fujino trug ausgebeulte Hosen und eine grobe Hanfjacke, doch als sie die ersten Schritte machte, ihren Kopf neigte und die Hände mit fesselnder Präzision bewegte, vergaßen alle die formlose Kleidung. Sie sahen nur ein wunderschönes Mädchen, das in einen Tempeldiener verliebt war.
Kiharus Stimme, leise und verführerisch, wurde kräftig und dramatisch, brach vor Gefühlen, als sich das Mädchen, vom Priester verschmäht, durch die vereitelte Leidenschaft in eine feuerspeiende Schlange verwandelte. Fujinos Tanz wurde wilder und wilder, und Taka konnte beinahe sehen, wie sie einen Kimono nach dem anderen abwarf, gleich einer Schlange, die ihre neun Häute abstreift.
Taka hatte ihre Mutter oft »Dojoji« aufführen sehen, aber nie so, wie sie in dieser Nacht tanzte. Sie stand in Flammen, drehte sich und wirbelte herum, warf ihre Hände hoch hinauf. Sie tanzte nicht für sie, sondern für ihren Geliebten, Takas Vater, stellte sich vor, dass er ihr von dem fernen Berghang zuschaute. Es war ihr Geschenk an ihn, das Letzte, was er sehen würde, bevor er starb.
Am Ende des Tanzes hat sich der verängstigte Priester unter einer bronzenen Tempelglocke versteckt. Das rachsüchtige Mädchen, nur vollends zur Schlange geworden, windet sich um die Glocke und speit Feuer darauf, bis sie schmilzt und den Priester verbrennt.
Als Fujino die letzte dramatische Pose einnahm, oben auf der imaginären Glocke, griff Kiharu nach zwei Stöcken und schlug einen Trommelwirbel auf einem Stein. Verblüfft sah Taka, wie ein schmerzlicher Ausdruck über Madame Kitaokas Gesicht huschte, als hätte sie zum ersten Mal die Tiefe der Gefühle erkannt, die ihren Gatten und Fujino verbanden.
In der darauffolgenden Stille heulte eine Eule, lang und tief. Alle saßen wie gebannt da, bis einer nach dem anderen zu applaudieren begann.
Der Mond hatte seinen höchsten Stand erreicht. Wie schattenhafte Wächter ragten die Bäume über die Lichtung. Taka hatte das Gefühl, die Kontrolle über ihre Gliedmaßen verloren zu haben. Sie stand auf, als hätte eine stärkere Macht sie dazu gezwungen. Alle anderen standen auch, bildeten einen Kreis um das Feuer. Sie begannen zu singen und zu klatschen, schwenkten nach links, dann nach rechts, schneller und schneller. Taka vergaß, wer und wo sie war, selbst die schrecklichen Ereignisse, die ihnen bevorstanden. Sie bewegte sich in Trance, tanzte im Kreis, spürte nur den Rhythmus und die Hitze des Feuers.
Schon oft hatte Taka bei jahreszeitlichen Festen getanzt, hatte alles vergessen, sich in der Menge schwitzender, miteinander verschränkter Leiber verloren. Doch das hier war eher wie ein Lösen aller Verbindungen zum Leben.
Im Feuerschein tanzten auch ihre Schatten. Ein Zuschauer hätte geglaubt, sie wären Fuchsgeister, die die Gestalt von Frauen angenommen hatten.
Das Feuer loderte höher, und die Hitze wurde stärker. Tante Kiharu warf ihre Jacke ab, dann ihre Hose, und auch Taka warf ihre beiseite, bis sie alle nackt tanzten, ein Kreis wirbelnder Skelette. Samurai, Geisha – ohne Kleidung deutete nichts auf ihren Status hin, waren alle Grenzen zwischen ihnen aufgehoben, wie im Badehaus oder bei den großen Festen in Sommer, wenn alle nackt auf den Straßen tanzten. Sogar Onkel Seppo zog sich bis auf den Lendenschurz aus und schloss sich ihnen an. Sie waren Teil eines uralten Festes vom Beginn der Zeit geworden, tanzten so wild und hemmungslos wie
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