Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
das Abschreckende Weib des Himmels, um die Sonnengöttin aus ihrer Höhle zu locken und das Licht in die Welt zurückzubringen.
39
Das Geschützfeuer verstummte, und eine unheimliche Stille legte sich über die Lichtung. Der Mond war untergegangen, das Feuer heruntergebrannt, doch in der Dunkelheit glühte immer noch ein roter Fleck an den Hängen des Shiroyama. Müdigkeit hatte sich über Taka gesenkt wie ein Nebel, und plötzlich wurde sie sich ihrer schmerzenden Beine bewusst. Sie hatten die ganze Nacht getanzt, keiner hatte ein Auge zugetan. Ein letztes Mal wirbelte sie herum, ließ dann die Arme fallen und kam schwankend zum Stehen. Sie hielt sich ganz still und lauschte. Irgendetwas Wichtiges hatte sie vergessen. Füße scharrten immer noch über den verkohlten Boden, doch von der fernen Musik war nichts mehr zu hören.
Eine Tänzerin nach der anderen hielt keuchend inne, schaute sich nach ihren Kleidungstücken um und zog sie wieder an. Die Kinder hatten den Kreis längst verlassen und lagen schlafend unter den Bäumen. Taka blickte über das Tal zum Vulkan, ein riesiger, dreieckiger Koloss vor dem schwarzen Himmel, aus dessen Krater eine Aschewolke aufstieg und die Sterne verhüllte. Sie suchte den Himmel nach Anzeichen von Licht ab und betete, das Morgengrauen möge nie kommen. Sie wollte es zurückhalten, nicht nur für ihren Vater, sondern auch für sich.
»Die Zeit ist fast gekommen.« Madame Kitaoka hatte das Tanzen beobachtet wie eine Priesterin bei einem mysteriösen Ritual. Sie zog das Bündel zu sich, das Taka gebracht hatte, und band es auf. Ein Stapel glatter Kleidungsstücke schimmerte schneeweiß im Kerzenlicht. Taka ballte die Fäuste, bis sich ihre Nägel ins Fleisch bohrten, und versuchte die in ihr aufsteigende Panik zu bezwingen. Sie spürte ihr Herz klopfen, und ihre Haut kribbelte vor Schweiß.
Sie wusste, was diese Kleidungsstücke waren: Bestattungsgewänder.
»Unsere Nachtwache ist fast beendet«, sagte Madame Kitaoka. »Wenn der Beschuss wieder einsetzt, ist die Zeit gekommen.«
Mit einem Ruck setzte sich Takas Mutter auf. »Zeit? Wofür?«, fragte sie und sog die Luft scharf ein.
»Für unsere Reise in die andere Welt. Das würde Masa von uns erwarten.«
»Nicht der Masa, den ich kenne.« Fujinos Augen waren riesig und ihr Gesicht dunkel vor Wut.
»Meine liebe Schwester. Bitte verdirb nicht die Schönheit dieses Augenblicks.« Die beiden funkelten sich an, dann senkte Fujino den Blick. So respekteinflößend sie auch sein mochte, Madame Kitaoka war es noch mehr.
Stärke knisterte, als Madame Kitaoka eines der Gewänder auffaltete, in die weiten Ärmel schlüpfte und es mit einer weißen Schärpe zuband. Die beiden Tanten rüttelten die älteren Kinder wach. Zitternd standen sie in der Kühle des Tagensanbruchs und zogen die Gewänder über ihre Kleidung. Madame Kitaoka schaute fragend zu Taka. Ihre Blicke bohrten sich in sie, als könnte sie ihr bis ins Innerste sehen und ihre geheimsten Gedanken lesen – Takas beschämende Sehnsucht nach einem feindlichen Soldaten, ihre feige Angst vor dem Tod.
Ein Gewand lag noch gefaltet auf dem offenen Einschlagtuch. Madame Kitaoka hob es auf und hielt es Taka mit beiden Händen hin. Es roch nach Stärke und Schimmel, als wäre es während des heißen, schwülen Sommers eingelagert gewesen.
Wie versteinert starrte Taka es an. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie kaum atmen konnte. Also hatte ihr Instinkt sie nicht getrogen. Für sie alle – ihre Mutter, Tante Kiharu, Okatsu und sie – war es ein schrecklicher Fehler gewesen, ihr Schicksal mit dem von Madame Kitaoka zu verbinden. Sie gehörte zu jener Welt der Samurai, der Schwerter und des Todes, zu deren Verteidigung Takas Vater in den Krieg gezogen war. Aber Taka nicht. Sie war nach West-Beppu gekommen, um Zuflucht zu finden, nicht den Tod. Der Krieg war fast vorbei. Jetzt, wenn überhaupt, war der Zeitpunkt gekommen, an dem – falls ihre Gebete erhört worden waren, falls die Götter beschlossen hatten, freundlich zu sein – Nobu zu ihr zurückkehren würde. Sie wollte auf keinen Fall sterben.
Es musste doch einen Ort geben, an den sie fliehen, etwas, das sie sagen, ein Argument, das sie anbringen konnte, um sich dem hier zu entziehen. Aber es gab keinen Ausweg. Panisch schaute sie sich um, und ihr Blick fiel auf den roten Fleck am Shiroyama. Dort war ihr Vater. Sie spürte seine Anwesenheit. Auch er sah dem Tod ins Auge.
Plötzlich erfüllte sie Scham über ihre feige
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