Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
zu lassen, damit Eijiro nicht die geringste Ausrede fand, ihn hinauszuwerfen. Sie wussten beide, wo sie standen. Eijiro war ein Satsuma, Nobu ein Aizu, und die Satsuma standen ganz oben auf dem Misthaufen, zumindest gegenwärtig.
Immer wieder rief er sich ins Gedächtnis, dass sein Leben hier zu gut war und nicht ewig währen konnte, doch solange es dauerte, konnte er es ebenso gut genießen.
Er band den letzten Kiefernast an das Gestell, vergewisserte sich, dass er ihn gut befestigt hatte, und wischte sich über die Stirn. Morgen, am siebten Tag des siebten Monats nach dem alten Mondkalender, war ein Feiertag – Tanabata, das Fest der Weberprinzessin und des Rinderhirten. Selbst innerhalb der hohen Mauern des Anwesens spürte er die Aufregung und hörte den Lärm von der Straße, wo die Menschen Lampions und lange bunte Papierstreifen aufhängten.
An diesem Abend schlenderte Nobu hinaus in die Gärten. Die Bäume wirkten wie geisterhafte schwarze Wachposten. Er entfernte sich vom Haus, bis er von der Stille verschluckt wurde. Eine einsame Zikade stieß ein schrilles Zirpen aus, und Mücken sirrten ihm um den Kopf. Er fand eine freie Stelle neben dem Teich und schaute zum Himmel hinauf. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und ein Sternenband zog sich über das weite schwarze Firmament, von einer Seite zur anderen: der Himmelsfluss. Nobu dachte an eine andere mondlose Nacht und an die Stimme seiner Mutter. Beinahe konnte er sie hören.
Für gewöhnlich bemühte er sich, nie daran zu denken, doch nun fluteten trotz allem die Erinnerungen zurück. Die Nacht war lau gewesen, obwohl die Sommer in den nördlichen Bergen nie so heiß und stickig wurden wie in Tokyo. Damals war er noch ein kleiner Junge, hatte mit seiner Mutter im Garten ihres großen Hauses gestanden, über dem die Burg von Aizu aufragte, riesig und schwarz den Himmel füllte und die Hälfte der Sterne verdeckte.
»Schau, kleiner Nobu«, hatte seine Mutter gesagt. Fast meinte er, ihr Parfüm zu riechen. »Dort oben, all diese Sterne – das ist der Himmelsfluss.« Er hatte hinaufgeschaut und ein schimmerndes Sternenband quer über dem Himmel gesehen, das im Norden sogar noch heller strahlte als hier im Süden. »Siehst du die drei großen Sterne?« Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und geschaut und geschaut, bis er drei Lichtpunkte ausgemacht hatte, die ein riesiges Dreieck zu beiden Seiten des Flusses bildeten, direkt am höchsten Punkt der großen Kuppel.
»Der hellste ist die Weberprinzessin.« Seine Mutter hatte hinaufgedeutet. »Und an der anderen Ecke, über den Himmelsfluss hinüber?« Er war ihrem Finger gefolgt und hatte einen funkelnden Stern auf der anderen Seite des breiten Sternenbandes ausgemacht. »Der Rinderhirte.«
»Wer ist der dritte?«, hatte er gefragt.
»Der gehört nicht zur Geschichte«, hatte seine Mutter lachend geantwortet.
»Erzähl sie mir, erzähl sie mir!« Sie wusste, dass er Geschichten liebte, hatte sich auf die Knie niedergelassen und ihn auf den Schoß genommen. »Einst, vor langer, langer Zeit …«
Einst, vor langer, langer Zeit, so ging die Geschichte seiner Mutter, lebte die Weberprinzessin im himmlischen Palast. Sie war die Tochter des Himmelskönigs und verbrachte ihre Tage damit, am Ufer des Himmelsflusses zu sitzen und Seide in allen Farben des Regenbogens zu weben, um Kleider für die Götter anzufertigen. Dann war eines Tages ihr Blick auf einen stattlichen jungen Rinderhirten gefallen, der seine Herde am gegenüberliegenden Ufer hütete. Sie verliebten sich ineinander und heirateten. Doch sie waren so verliebt, dass sie für nichts anderes mehr Zeit hatten. Die Prinzessin hörte auf, ihre wunderschönen Kleider zu weben, und der Rinderhirte ließ seine Herde durch den ganzen Himmel streifen. Schließlich hatte ihr Vater, der Himmelskönig, genug. Er verfügte, dass sie bestraft werden sollten. Forthin würden sie für immer getrennt sein, auf entgegengesetzten Seiten des Himmelsflusses leben und sich nie wieder sehen. Doch dann lenkte er ein, vielleicht hatten die Tränen der Prinzessin sein Herz erweicht. Sie dürften den Fluss überqueren und sich einmal im Jahr treffen, bestimmte er, am siebten Tag des siebten Monats.
Voller Sehnsucht verzehrten sich die Liebenden nach dem Tag, an dem sie zusammen sein konnten. Doch als der Tag kam, entdeckten sie, dass es keine Brücke gab. Weinend schauten sie sich über den Himmelsfluss an. Just in diesem Augenblick kam ein Schwarm himmlischer Elstern
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