Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
finden, und Nobu musste sie begleiten, weil nur er die Pflanzen erkennen konnte.
Das war die perfekte Ausrede. Nobu und Taka trafen sich an ihrem geheimen Platz im Wald und saßen Seite an Seite über ihre Bücher gebeugt. Immer gab es ein neues Schriftzeichen zu lernen und Texte zu lesen. Taka war eine strenge Lehrerin, fragte ihn ab und tadelte ihn, wenn er etwas vergaß.
In jedem freien Moment übte er die neuesten Schriftzeichen ein, kratzte sie in den Boden, wenn er in den Gärten arbeitete, und glättete sie rasch wieder, schrieb sie immer wieder mit dem Finger in seine Hand, wenn er im Haus sauber machte. Nachts im Dienstbotenquartier nahm er eine Lampe mit unter die Decke und arbeitete die Bücher durch, die Taka ihm gegeben hatte. Selbst wenn es Anweisungen waren, wie man eine gute Hausfrau wurde, vergrößerte jedes neue Wort sein Vokabular.
Allmählich ging ihm auf, dass es auch Dinge gab, die er ihr beibringen konnte – alte Geschichten, die seine Mutter ihm erzählt hatte, historische Begebenheiten, von denen sie nichts zu wissen schien. Und manchmal unterhielten sie sich einfach – über das Haus, die Familie, Takas Lehrer, ihre Schule, ihre verhassten Klassenkameradinnen, über Geschichte, Geografie, Dichtkunst, Malerei, die chinesischen Klassiker und die englischen Bücher, die sie zu lesen begann.
»Ich möchte gern Dichterin oder Malerin oder eine Gelehrte werden«, verriet sie ihm eines Tages. Sie saßen nebeneinander an einen Baum gelehnt. Taka rutschte näher und ließ ihre Schulter an seinem Arm ruhen. Nobu saß, so reglos er konnte, spürte ihre Wärme und Zartheit. »Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen, als eine Braut zu sein und fortgeschickt zu werden wie meine Schwester Haru«, flüsterte sie und blickte zu ihm hoch. »Lieber bleibe ich hier bei dir.«
Und einmal, zu seiner großen Freude, tanzte sie für ihn, sang leise, bewegte sich zu ihrem Lied, erzählte eine Geschichte mit ihren Händen – las einen imaginären Brief, wischte imaginäre Tränen fort. Als er applaudierte, wurde sie rot, lachte und warf sich neben ihm auf die Blätter.
Okatsu hielt Wache, und auf dem Rückweg zum Haus suchten sie nach Farnspitzen oder Pestwurz, um ihre Körbe zu füllen. Niemand wies sie in die Schranken oder hegte einen Verdacht, und sie wurden kühner. Wenn Fujino und Eijiro ausgegangen waren, saßen Taka und Nobu manchmal auf der Veranda vor dem großen, luftigen Raum, in dem Taka ihre Schreibarbeiten und Malereien anfertigte, schauten hinaus auf die in der Hitze flimmernden Bäume, Felsen und Blumen und ließen die Beine baumeln.
Nicht alles war gut. Nobu wurde nach wie vor nicht bezahlt und konnte daher kein Geld an seine Familie schicken, obgleich er von Zeit zu Zeit von ihnen hörte. Wenn er einen freien Tag hatte, lief er quer durch die Stadt und besuchte seinen Mentor Hiromichi Nagakura, den alten Freund seines Vaters, der ihm jenes schicksalhafte Empfehlungsschreiben ausgestellt hatte, das ihm in der Schwarzen Päonoie zugute gekommen war. Bei Nagakura warteten Briefe auf ihn.
Er las sie jetzt selbst, Nagakura musste sie ihm nicht mehr vorlesen. Seinen beiden älteren Brüdern gehe es gut, schrieben sie, er brauche sich keine Sorgen um sie zu machen. Er merkte, dass sie ihn beruhigen wollten. Yasu, der Älteste, hatte immer noch keine Arbeit, aber Kenjiro, der Intelligente, der Englisch sprechen und lesen konnte, hatte Arbeit als Dolmetscher für einige ausländische Techniker in irgendeiner abgelegenen Gegend bekommen, wenngleich seine Gesundheit immer noch angegriffen war. Da beide älter waren als Nobu, hatten sie Zeit gehabt, ihre Bildung zu vervollständigen, bevor sie sich auf der Straße wiederfanden. Sie hofften, nach Tokyo zurückkehren und eine Unterkunft finden zu können, damit sie ihn von Zeit zu Zeit sehen konnten. Von Gosaburo oder Nobus Vater, die in Armut hoch im Norden des Landes lebten, gab es keine Nachricht. Nobu musste davon ausgehen, dass sie wohlauf waren, denn wenn nicht, hätten seine Brüder es ihm mitgeteilt.
Auch Eijiro war ein Anlass zur Sorge. Ständig ging er aus, tat das, was verwöhnte junge Männer mit zwanzig wohl so taten. Aber wenn er da war, machte er Nobu das Leben schwer. Dann kam er in die Küche und brüllte: »Nobu, du fauler Hund, wo bist du? Das Schuhregal muss geputzt werden« oder »Die Toiletten sind widerlich. Mach sie anständig sauber.« Nobu tat, was immer ihm Eijiro befahl, stets bemüht, sich keinerlei Groll anmerken
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