Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
geflogen. Beim Anblick des weinenden Paares bekamen sie Mitleid und bildeten mit ihrem Schwingen eine Brücke über den Fluss, sodass die Liebenden zueinanderkommen konnten.
Das wiederholten sie fortan in jedem Jahr. Doch wenn es regnete, konnten die Elstern nicht fliegen, und die Liebenden mussten ein weiteres Jahr warten, bis sie sich wieder treffen konnten. Und das war der Grund, warum alle an Tanabata um gutes Wetter beteten. Wenn es regnete, hatte seine Mutter ihm erzählt, waren das die Tränen des unglücklichen Liebespaars.
Zu jedem Tanabata-Fest hatte Nobu in seiner kindlichen Schrift sorgfältig Wünsche auf Papierstreifen geschrieben und war mit seiner Mutter, seinen Schwestern und Brüdern zum örtlichen Tempel gegangen. Dort hatten sie die Streifen an schwankende Bambuszweige gehängt, damit die Wünsche in Erfüllung gingen.
Mit einem Ruck kehrte Nobu in die Gegenwart zurück. Sechs Jahre waren seither vergangen. Durch einen Tränenschleier blickte er zu den funkelnden Sternen hinauf, wischte sich über die Augen und blinzelte heftig. Der Schmerz der Erinnerungen war fast unerträglich. Dann ging der Mond auf, überflutete die Gärten mit Licht, und Nobu konnte die Weberprinzessin und den Rinderhirten nicht mehr sehen.
Früh am nächsten Morgen war Nobu dabei, das letzte Frühstücksgeschirr abzuräumen, als Okatsu in die Küche gelaufen kam, die Wangen hochrot vor Aufregung. »Die Herrin möchte, dass du ein paar Taroblätter findest und den Tau von ihnen einsammelst.« Sie gab ihm ein Fläschchen.
Nobu lächelte. Er kannte den alten Tanabata-Brauch, Wünsche mit einer Tusche zu schreiben, die mit dem Tau von Taroblättern angerührt worden war. Er wusch sich die Hände und ging nach draußen. Die Zikaden zirpten, Bäume, Felsen und Blumen flimmerten in der Hitze. Wieder würde es ein schwüler Tag werden. Er fand eine Stelle mit Taropflanzen. Die großen, herzförmigen Blätter, wie große Tassen oder ausgestreckte Hände, waren bis zum Rand mit Tau gefüllt. Vorsichtig ließ er ihn in das Fläschchen rinnen, bis es halb voll war.
Taka kniete auf der Veranda, sommerlich gekleidet in ein einfaches, blau-weißes Baumwoll-Yukata. Mit ihrem hochgesteckten Haar und ihrer frischen jungen Haut, den weit auseinanderliegenden Augen und den zarten Gesichtszügen war sie äußerst bezaubernd. Nobu stockte kurz der Atem. Sein Gesicht brannte. Er senkte den Blick und scharrte mit den Füßen. So durfte er sie nicht ansehen, ermahnte er sich. Sie war seine Herrin und Lehrerin, und auf andere Weise an sie zu denken, war äußerst ungehörig. Ein Mädchen wie sie war nichts für jemanden wie ihn.
Er zwang sich zur Konzentration, tröpfelte den Tau in die Höhlung des Reibsteins, nahm die Tuschestange und begann zu reiben. Für den Rest seines Lebens, dachte er, würde er beim Geruch frisch geriebener Tusche an diesen Tag denken müssen. Taka griff nach ihrem Pinsel, tauchte ihn in die Tusche, streifte ihn am Rand des Reibsteins ab und setzte ihn elegant aufs Papier.
»Du musst auch einen Wunsch aufschreiben, Nobu.« Sie lächelte ihn an, während sie den Pinsel auf einen Halter legte. »Dann gehen wir alle zum Sengaku-Tempel und binden die Wünsche an den Bambus.«
Nobu griff nach einem Pinsel. Seine Kenntnisse waren so weit gediehen, dass er beim Schreiben keine Hilfe mehr brauchte. Jungen sollten um Erfolg bei ihren Schulaufgaben bitten und Mädchen darum, dass ihre Näharbeit so schön würde wie die der Weberprinzessin, aber er hatte etwas anderes, das er sich wünschen wollte. Er setzte seinen Pinsel aufs Papier und schirmte es dabei mit der Hand ab, damit niemand außer den Göttern, die Wünsche erfüllten, seine Worte lesen konnte. Dann faltete er das Papier mehrfach zu einem langen, schmalen Streifen zusammen.
Plötzlich hörte Nobu schwere Schritte durch die großen, leeren Räume auf sie zukommen. Vertieft in ihr Schreiben, hatte sie den Tumult im Inneren des Hauses nicht gehört.
»Mutter, komm und sieh dir das an.« Das war Eijiro. Drinnen krachte und klirrte es. Er trat Tische aus dem Weg, stieß Lampen, Teekannen und Becher um.
Nobu blickte sich um, starr vor Entsetzen. Er dachte daran, von der Veranda zu springen und sich unter dem Haus zu verstecken, aber dafür blieb keine Zeit. Bei all den offenen Räumen würde Eijiro ihn schon von drinnen sehen. Letzte Nacht war er ausgegangen. Wieso war er um diese Uhrzeit schon wieder zurück? Sie waren so sorglos geworden, dass sie fast vergessen
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