Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Titel: Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Downer
Vom Netzwerk:
überhängenden Dach ragte vor ihm auf.
    Dann kam Okatsu plötzlich über den Kies gerannt. Sie drückte Nobu eine Börse und einen Reisekasten aus Bambus in die Hand. Die Dienstboten hielten sie nicht zurück.
    Sie stießen Nobu zu dem kleinen Seitentor, schoben es auf, und Nobu stolperte auf die Straße hinaus. Er sank auf die Knie. Menschen in ihrer Festtagskleidung traten erschrocken zurück und wichen ihm in großem Bogen aus.
    Das Tor krachte hinter ihm zu. Benommen blieb er auf der Straße sitzen. Welch ein brutales Erwachen! Ein Abschnitt seines Lebens war vorbei. Er war wieder auf der Straße, mittellos, mit nichts – fast nichts; er hatte die Börse und den Bambuskasten. Schmerz, Verzweiflung, Armut, Kummer waren vertraute Begleiter. Neu war nur das schmerzliche Gefühl der Leere. Die Gewissheit war wie eine Klinge, die ihm bis in die Knochen drang: Er würde Taka nie wiedersehen.
    Langsam kam er auf die Füße und humpelte davon. Er blickte nicht zurück.

Teil II DIE WEBERPRINZESSIN
UND
DER RINDERHIRTE

6
    Siebter Monat, Jahr der Ratte, neuntes Jahr der Meiji-Ära (August 1876)
    Der Tag würde wieder heiß werden. Taka legte ihren Pinsel ab, zog das Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte den Schweiß von Gesicht und Armen. Aus dem Garten kam das Klimpern der Windglocken und das trockene Klacken eines Bambusrohrs, das sich nach unten senkte und mit einem monotonen »tock, tock« gegen den Rand des Steinbeckens schlug. Zikaden brachen in ohrenbetäubendes Zirpen aus. Wie seltsam, dachte sie, dass so winzige Insekten einen derartigen Lärm veranstalten konnten. Das Geräusch war für sie der Inbegriff des Sommers.
    Dienstboten waren eifrig zugange, rutschten mit feuchten Lappen über die Tatamimatten oder polierten die schmalen Holzrahmen der mit Papier bespannten Shoji. Gedämpftes Licht fiel flimmernd herein.
    Taka tröpfelte mehr Wasser auf ihren Reibstein, nahm die Tuschestange und begann zu reiben. Dann brandete mit dem süßen Duft frisch geriebener Tusche eine so starke Erinnerungswoge über sie hinweg, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Sie atmete scharf ein, legte die Tuschestange beiseite und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Seit jenem schrecklichen Tag, an dem sie Nobu zum letzten Mal gesehen hatte, waren fast zwei Jahre vergangen.
    Auch damals, als Nobu fortgejagt wurde, war es heiß und stickig gewesen. Er war aus ihrem Leben verschwunden und nie zurückgekehrt. Tagelang hatte sie geweint, und selbst jetzt, wenn sie zu ihrem geheimen Platz im Wald ging, um allein ihren Gedanken nachzuhängen, kam ihr in den Sinn, wie sie dort mit ihm gesessen hatte, und die schmerzliche Erinnerung trieb ihr wieder die Tränen in die Augen. Nobu war nur ihr Diener und ihr Schüler gewesen, redete sie sich ein, mehr nicht. Sie hatte sich einsam gefühlt, und er war ihr allmählich wie ein Freund vorgekommen. Die Art, wie Eijiro ihn behandelt hatte, die Brutalität war es, die sie so verstörte. Seit Nobu fort war, kam ihr das Leben schrecklich leer vor.
    Natürlich hatte sie nie wieder von ihm gehört. Das hatte sie auch nicht erwartet. Nobu war einfach verschwunden, war von der großen Stadt Tokyo verschluckt worden. Oder vielleicht war er nach Aizu zurückgekehrt. Sie würde es nie erfahren.
    Inzwischen dachte sie kaum mehr an ihn – nur wenn sie Tusche roch, wenn die Rikscharäder auf eine bestimmte Art knarrten oder sie am Bachufer Schachtelhalmsprossen entdeckte.
    Sie ging jetzt auf eine neue Schule – Kijibashi, die erste Oberschule für Mädchen in Japan. Bevor ihr Vater fortgegangen war, hatte sie ihn gebeten, sie dort anzumelden. Diese Schule war ganz anders als die alte. Dort waren mehr Mädchen wie sie, Mädchen, mit denen sie sich verstand – Mädchen aus Kyoto, von denen einige ihr Leben genau wie Taka als Geishas begonnen hatten. Sie musste sich nicht mehr für ihre Tanzkünste schämen.
    Taka gefiel die neue Schule sehr. Sie wusste, wie privilegiert sie war, dort sein zu dürfen. Wie die anderen kleidete sie sich in unerhört gewagte Hakama-Hosenröcke, wie Jungen sie trugen, zu einem kastanienbraunen Kimono und einer maskulinen, breitschultrigen Haori-Jacke darüber, schritt mit ihren westlichen Büchern forsch aus, ganz im Bewusstsein, Teil des modernen Zeitalters zu sein. Sie lernte sehr fleißig – Gesang, Mathematik, Nähen, Kalligrafie, Kunst und Englisch, ihr Lieblingsfach.
    Gerade hatten sie mit einem Liebesroman begonnen, so wie Der Pflaumenkalender oder Der bäuerliche Genji

Weitere Kostenlose Bücher