Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
verging und keine Nachricht kam. Fünf Monate nach der Aufnahmeprüfung war ein Brief eingetroffen. Er hatte ihn mit zitternden Händen entgegengenommen und nicht gewagt hinzuschauen, bis er ihn schließlich doch mit angehaltenem Atem auseinanderfaltete. Zuerst wollte er seinen Augen nicht trauen: Er war angenommen worden.
Nobu konnte es kaum fassen. Sein Schicksal konnte sich doch wohl nicht so radikal geändert haben. Er las die Worte immer wieder, bis er sicher war, dass es stimmte und er sich nicht geirrt hatte, dann hatte er vor Freude gejuchzt, war in die Luft gesprungen und losgelaufen, um Nachricht an seine Brüder, seinen Vater und alle zu schicken, die er kannte. Er hatte alles Geld zusammengekratzt, um sich eine Uniform im französischen Stil zu kaufen – graue Hose, marineblaue Jacke mit gelben Litzen und Quasten, Unterzeug, Kappe und glänzende Lederschuhe.
Am ersten Unterrichtstag hatte er sich in den Ichigaya-Stadtteil von Tokyo aufgemacht, durch die großen Tore, über das Gelände zu dem einschüchternden, dreistöckigen Gebäude auf der Hügelkuppe – die Heeresoffiziersschule, ein gewaltiger Steinbau mit weißen Mauern wie ein Lagerhaus, aber Glasfenstern und Türen mit Scharnieren wie ein westliches Gebäude. Die hallenden Räume und Flure erfüllten ihn mit Erregung und leichtem Bangen. Nobu war sich sicher, dass sich sein Leben von diesem Augenblick an für immer verändern würde.
Aber er merkte bald, dass der Eintritt in die Kadettenanstalt erst der Anfang war. Er gehörte zu denen aus der untersten Schicht. Von morgens bis abends war er mit Lernen beschäftigt, Exerzieren und der Ausbildung in den Kriegskünsten. Alle Lehrer und Militärausbilder waren Franzosen, denn die französische Armee war die beste der Welt, wie sie behaupteten, und ihr Ziel war es, die japanische Armee ebenso gut zu machen. Die erste Aufgabe bestand darin, Französisch und alles über Frankreich zu lernen – dessen Geschichte, Geografie, Kultur. Erst dann konnten die Schüler mit den Handbüchern über militärische Theorie und Taktiken beginnen, alle auf Französisch verfasst.
Nobu lebte wie ein Franzose. Er schlief in einem Wohnheim auf einem harten Bett, kein Futon, saß auf einem Stuhl am Tisch und aß französische Mahlzeiten – Suppe, Brot und Fleisch, mit Reis und Pökelfleisch am Samstag. Sich an das Fleischessen zu gewöhnen, dauerte ein wenig, doch während sich die anderen Schüler über das Essen beschwerten, fühlte sich Nobu trotzdem, als wäre er in Amida Buddhas westlichem Paradies wiedergeboren worden.
Doch dann waren die Ferien gekommen. All seine Schulkameraden hatten ein Zuhause, in das sie zurückkehren konnten, nur er hatte nichts und musste sich erneut eine Stelle als Dienstbote suchen, um die Zeit zu überbrücken.
»A cœur vaillant rien d’impossible« , murmelte er.
Ein Kichern erklang, und eine kleine Hand mit schmutzigen Fingern und abgekauten Nägeln schlug auf seine Buchseite. Er zuckte zusammen. Das Mädchen mit der süßen Stimme lehnte ihren weichen, verschwitzten Körper an seinen, hüllte ihn in einen berauschenden Duft nach Sandelholz und Aloe ein. Er lachte und gab sich geschlagen. Die Laternen in den Ecken warfen lange Schatten, und dichter Tabakqualm hing in der Luft. Es lohnte sich nicht, noch länger zu lesen.
»Meine Güte, ist der begierig aufs Lernen«, trällerte das Mädchen. Unter der weißen Schminke, dick genug, um eine Lagerhauswand zu verputzen, hatte sie ein schelmisches Gesicht mit spitzem Kinn und fragenden Augen. Sie war noch jung, nicht älter als dreizehn. »Aber ich mag die Lernbegierigen«, fügte sie in schmeichelndem Ton hinzu. »Und auch noch ein so nett aussehender Junge. Du liest, oder? Dein Herr wird noch lange fortbleiben, weißt du. Mori-sama, nicht wahr? Er veranstaltet ein großes Fest mit zwanzig Gästen. Er wird noch lange nicht nach dir schicken.«
»Weißt du, wen er für diese Nacht gebucht hat?«, fragte die zweite Stimme mit boshaftem Kichern. »Unsere Segawa. Nur das Beste ist gut genug für Mori-sama, nur unsere Segawa, die berühmteste Kurtisane in ganz Yoshiwara – nein, im ganzen Land. Sie ist wie die Kirschblüte, ihr kann keine das Wasser reichen. Sie wird deinen Mori-sama bis zum Morgengrauen beschäftigt halten, das kann ich dir jetzt schon sagen! Sie erstürmt Burgen, sie ruiniert die Männer, sie kann eine Nation mit dem Rascheln ihrer Röcke in die Knie zwingen, Männer dazu bringen, sich gegenseitig an die Gurgel
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