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Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)

Titel: Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lesley Downer
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durften sie nicht mehr mit Jungen verkehren. Aber Nobu war kein stolzer Samurai oder ein reicher Junge aus ihrer eigenen Schicht gewesen. Er war nur ein Dienstbote und hatte daher kaum als Junge gezählt. Taka dachte daran, wie er jeden Tag das Haus geputzt und im Garten geharkt und gefegt hatte, wie er mit ihren Büchern und dem Lackkästchen mit ihrer Mittagsmahlzeit hinter der Rikscha hergelaufen war, zur Schule und wieder zurück. Auf die eine oder andere Weise war er stets in ihrer Nähe gewesen. Wie sehr sie sich wünschte, er wäre jetzt hier, damit sie alles mit ihm besprechen könnte, wie sie es so oft getan hatte. Aber das Wünschen nützte nichts. Nobu war seit Langem verschwunden.

8
    »Hallo, hier herüber«, zwitscherte eine mädchenhafte Stimme mit dem sinnlichen Lispeln des Yoshiwara-Vergnügungsviertels, leise und beharrlich, als wollte sie eine Katze locken. »Ja, du, großer Bruder. Warum versteckst du dich da in der Ecke?«
    Eine weitere Stimme, anzüglich und voll verborgener Anspielungen, krächzte: »Weißt du, mein Junge, hier gibt es Spaß für Dienstboten wie für Herren!«
    Nobu stöhnte. »Trois petites truites cuites, trois petites truites crues«, murmelte er mit schmerzendem Kiefer, während er versuchte, seine Lippen um die schwierigen französischen Silben zu formen. »Drei kleine gebratene Forellen, drei kleine rohe Forellen.« Er konnte immer noch nicht »i« von »e« unterscheiden, oder »ri« von »ru«, und brachte auch nur etwas dem französischen »r« entfernt Ähnliches zustande, doch in diesen langen Sommertagen war es ihm gelungen, eine Ecke zu finden, in der die letzten Lichtstrahlen durch ein Loch in der Papierbespannung drangen, wenngleich der Rest des Raumes in fast vollkommener Dunkelheit lag. Er kniete, die langen Beine untergeschlagen, hielt das Buch in den Lichtfleck und war in seine französische Grammatik vertieft. »A cœur vaillant rien d’impossible« , wiederholte er murmelnd eine der endlosen Listen von Sprichwörtern, die er auswendig lernen sollte. »Für das tapfere Herz ist nichts unmöglich.« Die anderen Schüler waren ihm so weit voraus, dass er keine Chance hatte, je zu ihnen aufzuholen, doch er gab nicht auf.
    »Will man ein Tigerjunges fangen, muss man sich in die Höhle des Tigers begeben.« Fast konnte er die kühle Stimme seiner Mutter hören, wenn sie ihn ermahnte. Sie hatte für jede Gelegenheit ein Sprichwort. Die altbekannten Phrasen erinnerten ihn daran, wie seine Mutter sie ihm eingebläut hatte, als er ein kleiner Junge in einer fernen Stadt im Norden gewesen war. Französisch zu lernen, war um vieles beängstigender, als die Höhle eines Tigers zu betreten, aber für ihn war es die einzige Möglichkeit, es im Leben zu etwas zu bringen. Und genau das musste er tun. Das war er seiner Familie schuldig, wenn nicht sich selbst.
    An seine Mutter und Schwestern zu denken, seinen Vater und seine Brüder, alle tot oder in Armut, war schmerzlich. Die Zeit hatte seinen Kummer gelindert, aber Nobu empfand immer noch tiefe Traurigkeit. Das Gesicht seiner Mutter konnte er sich sogar kaum noch vor Augen rufen.
    Und Taka …
    Nachdem er aus dem Haus der Kitaokas gejagt worden war, hatte er lange gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Eijiro hatte ihn stärker verletzt, als ihm klar gewesen war. Schließlich war er im Haus von Nagakura gelandet, dem alten Freund seines Vaters. Er hatte den Inhalt der Börse ausgehändigt, die Okatsu ihm gegeben hatte – er fand zehn Yen darin, dazu saubere Kleider in dem Bambusreisekasten –, hatte sich dort wie ein Hund verkrochen und seine Wunden geleckt.
    Sobald er konnte, war er ausgezogen. Nagakuras Haus lief über von Familienangehörigen, Schülern und Flüchtlingen aus dem Norden. Nobu konnte sich ihnen nicht auf Dauer aufdrängen. Er hatte eine Arbeit als Dienstbote gefunden, dann als Lieferjunge für ein Aal-Restaurant, als Gehilfe in einem Badehaus, hatte heiße Kohlen geschaufelt und Rücken geschrubbt. Doch selbst nachdem seine Wunden verheilt waren, die Blutergüsse abgeklungen und er nicht mehr wie ein aus dem Krieg heimgekehrter Soldat aussah, war er manchmal, wenn er für sich war, mit einem Ruck in die Gegenwart zurückgekehrt und hatte gemerkt, dass er ins Nichts starrte, in Trübsal versunken.
    Die unerwartetsten Dinge versetzten ihn zurück – die Art des Lichteinfalls, Kochgerüche, der Klang einer Stimme. Der Gedanke an Taka war ein Schmerz, der ebenso spürbar war wie körperliche

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