Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
gefangen hast, ermahnte er sich streng.
»Beinahe hätte ich’s vergessen«, sagte Shige. »Sie hat etwas für dich dagelassen.«
Mit einem Lächeln, das ihre schwarzen Zähne enthüllte, hielt sie ihm ein kleines Päckchen hin. Ein Brief, nicht aufgerollt, sondern gefaltet und versiegelt. Nobu nahm ihn in beide Hände und führte ihn an die Stirn, als wäre er ein kostbares Geschenk. Sein Name stand darauf. Als er die Pinselstriche erkannte, setzte sein Herz kurz aus. Der Brief war von Taka. Bemüht, seine Aufregung nicht zu zeigen, steckte er ihn in den Ärmel.
Mori blickte finster und öffnete den Mund. Shige wirbelte herum. »Jetzt hör auf, ihn zu schikanieren«, schimpfte sie. Er schloss den Mund wieder. »Du kannst den Rest des Tages freinehmen, junger Nobu. Geh und lies deinen Brief. Ich würde ins Badehaus zurückkehren, wenn ich du wäre.« Sie drückte ihm ein paar Münzen in die Hand.
So bedächtig wie möglich schlenderte Nobu nach draußen und fand eine ruhige Ecke unter einem Baum, wo Bunkichi und Zenkichi ihn nicht finden würden. Er nahm den Brief aus dem Ärmel, brach das Siegel auf und entfaltete ihn. Langsam las er die Worte, ließ den Blick auf der vertrauten Handschrift ruhen, auf der Art, wie die Tusche von einem Pinselstrich zum anderen floss, breit, dann zu einer Spitze verjüngt, wie Grashalme.
Nobu-sama. Wie froh ich bin, von meinem älteren Bruder Eijiro Neuigkeiten über Sie erfahren zu haben. Ich hoffe, es geht Ihnen gut bei diesem heißen Wetter. Ich denke oft an Sie und frage mich, wie es Ihnen geht und was Sie machen. Zwei Jahre muss es her sein, seit Sie unser Haus verlassen haben. Das war genau an Tanabata, nicht wahr? Und nun ist wieder Tanabata. Wir müssen für gutes Wetter beten. Taka.
Er lächelte. Wie rücksichtsvoll von ihr, eine so respektvolle Anrede – »-sama« – für ihn zu wählen, der doch, soviel sie wusste, nur ein Dienstbote war. Auch er würde für gutes Wetter beten, damit die Elstern ihre Brücke schlagen, die Weberprinzessin und der Rinderhirte den Himmelsfluss überqueren und in dieser Nacht zusammen sein konnten.
Er dachte an Taka mit ihren ordentlich in eine Bambusmatte gerollten Pinseln und erinnerte sich, wie er neben ihr gekniet hatte, während sie ihm geduldig beizubringen versuchte, seine Pinselstriche so schön zu machen wie die ihren. Er dachte an den süßen Duft ihres Haares, das Gefühl ihrer kleinen, kühlen Finger um die seinen, als sie seinen Pinsel lenkte, hob und dann senkte, ihm bei den Schriftzeichen half. Sie war eine strenge Lehrerin gewesen, nie zufrieden, bis jeder Pinselstrich perfekt war.
Dann war dieser schreckliche Tag gekommen, als Eijiro angestürmt war und sie dabei überrascht hatte, Tanabata-Wünsche aufzuschreiben. Ihm fiel sein eigener törichter Wunsch ein – im Haus der Kitaokas zu bleiben, in Takas Nähe, für immer. Selbst jetzt noch wand er sich innerlich bei der Erinnerung. Das hatte das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht und Eijiro den Vorwand geliefert, auf den er gewartet hatte, um Nobu hinauszuwerfen. Doch was er geschrieben hatte, war die Wahrheit. Auch wenn sie die Familie von General Kitaoka waren, auch wenn Eijiro ihn wie einen Hund behandelt hatte, war Nobu dort glücklich gewesen. Er hätte wirklich für immer bei ihnen bleiben wollen.
Nobu stieß einen Seufzer aus. Taka hatte recht. Seit damals waren zwei Jahre vergangen, wenngleich es ihm wie ein ganzes Leben vorkam. Und jetzt war, wie sie geschrieben hatte, wieder Tanabata.
Er las den Brief noch einmal, faltete ihn zusammen und steckte ihn in seinen Ärmel. Wie rührend, dass Taka an ihn gedacht und sich die Mühe gemacht hatte, ihm zu schreiben, vor allem, da es ihr gelungen war, wie Eijiro ihm erzählt hatte, diese vorteilhafte Partie zu machen. Ihm fiel ein, dass sie stets behauptet hatte, nicht heiraten zu wollen. Ihre Mutter musste darauf bestanden haben. Er war erstaunt, dass Taka es geschafft hatte, so lange unverheiratet zu bleiben.
Nobu griff nach seinem Handtuch und machte sich zum Badehaus auf.
Dann kam ihm ein Gedanke. Angenommen, es war nicht nur ein freundliches Briefchen? Angenommen, es war eine Botschaft? Taka würde zum Sengaku-Tempel gehen, dem Tempel in der Nähe ihres Hauses, um ihre Wünsche an einen Bambuszweig zu binden, wie sie es jedes Jahr tat. Vielleicht war dies, wie bei der Weberprinzessin und dem Rinderhirten, ihre einzige Chance, einander zu treffen? Vielleicht war es das, was sie ihm mitteilte.
Nobu
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