Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
Sichel, ist selbst dann nicht die Zeit zum Weinen. Wir müssen lernen, trockenen Auges zu bleiben wie die kleine Sato. Viele Aizu-Familien haben ihre Frauen auf die gleiche Weise verloren. Wir müssen Vater helfen. Sein Leid ist das größte.«
»Ich wünschte, ich wäre auch gestorben«, sagte Nobu. »Das wäre leichter zu ertragen gewesen.«
Nobu bekam die Mahlzeit, die Yuki zubereitet hatte, nur mühsam hinunter, aber während er mit seiner Familie ums Feuer saß, begann er schließlich so etwas wie Frieden zu empfinden. Vater trank einen Schluck Tee und sagte: »Eure liebe Mutter muss geglaubt haben, dass Onkel Juémon umkommen und nichts übrig bleiben würde. Denn wer hätte schließlich gedacht, dass irgendeiner von uns überlebt – bis auf dich, junger Nobu. Du solltest überleben. Juémon tat sein Bestes, doch irgendwo unterwegs gingen die Schriftrollen mit den Todesgedichten unserer Familie verloren. Aber er gab mir das hier.«
Er griff zu dem einfachen Altar an der Wand der Hütte hinauf, nahm einen Reliquienbeutel herunter, öffnete ihn und schüttelte etwas in seine Hand. Nobu starrte in der Dunkelheit darauf. Eine schwarze Haarsträhne. Vater hielt sie Yasu hin, doch der schüttelte den Kopf.
»›Nähme ich es in die Hand, würde es schmelzen‹«, murmelte er.
»Natürlich. Der neunte Monat.« Vater schluckte. »Derselbe Monat, in dem Basho zu seiner Familie nach Iga zurückkehrte.«
»›Zu Beginn des neunten Monats kehrte ich in meinen Heimatort zurück.‹ Fängt der Absatz nicht so an?«, fragte Yasu.
Nobu ließ den Kopf hängen und fragte sich, wie man zu so einem Zeitpunkt über Basho reden konnte. Doch dann kam ihm eine Ahnung. Vielleicht war es auf diese Weise leichter zu ertragen. Vielleicht halfen ihnen die Worte des Dichters, ihren Schmerz zu bewältigen.
Vater nickte und begann zu zitieren: »›Zu Beginn des neunten Monats kehrte ich in meinen Heimatort zurück. Das Chinaschilf in der Nordkammer war vom Frost verdorrt, und nichts war mehr davon geblieben. Alles hatte sich verändert. Das Haar meines Bruders war weiß, seine Stirn faltig. Er sagte nur: ›Wir leben.‹ Ohne ein Wort öffnete er seinen Reliquienbeutel. ›Erweise Mutters weißem Haar deinen Respekt. Das ist Urashimas magisches Kästchen. Auch du hast dich in einen alten Mann verwandelt.‹«
Er legte die Haarsträhne in Nobus geöffnete Hände. Nobu ließ sie dort liegen, leicht wie Daunen, und spürte die seidige Weichheit. Er schloss die Augen, spürte die Wärme ihrer Umarmung und ihre Finger streichelnd auf seinem Haar, hörte ihre sanfte Stimme, während sie ihm seine Lieblingsgeschichte erzählte, von Urashima, dem gut aussehenden jungen Fischer.
Es war vor langer, langer Zeit, begann sie immer. Urashima warf eines Tages seine Netze aus, als er sah, wie Kinder eine Schildkröte malträtierten. Er rettete sie und setzte sie vorsichtig zurück ins Meer.
Am nächsten Tag war er wieder beim Fischen und hörte plötzlich eine Stimme rufen: »Urashima! Urashima!« Eine Risenschildkröte schwamm zum Ufer, teilte mit ihren gewaltigen Flossen die Wellen. Mit rauer Stimme verkündete sie, der oberste Gefolgsmann des Drachenkönigs zu sein. Die Schildkröte, die Urashima gerettet hatte, sei die Tochter des Drachenkönigs. Sie wolle ihn sehen und ihm persönlich danken. Also kletterte Urashima auf den breiten Rücken der Schildkröte und hielt sich an deren faltigem Hals fest, als sie in die Tiefe tauchte.
Er fand sich im Palast des Drachenkönigs wieder, in dem leuchtend bunte Fischschwärme durch einen Irrgarten felsiger Höhlen schwammen und zarte Türme und Rondelle sich in Spiralen hinauf zur weit entfernten Wasseroberfläche wanden. Die Schildkröte, die er gerettet hatte, war eine Prinzessin von größerer Schönheit, als sich je ein Mensch hätte vorstellen können, mit Korallenwangen, Augen, die sich wie Fischschwänze verjüngten, und einer schimmernden Haarpracht.
Drei Tage vergingen wie im Traum, während Urashima in ihren Armen lag und das Singen, Tanzen und Schmausen genoss. Doch dann dachte er an seine alten Eltern und erinnerte sich, dass er zu ihnen zurückkehren und ihnen versichern musste, er sei am Leben und gesund. Die Prinzessin bat ihn, sie nicht zu verlassen, aber ihm blieb keine andere Wahl, daher gab sie ihm als Abschiedsgeschenk ein mit Edelsteinen geschmücktes Schatzkästlein. Er müsse es sorgfältig verwahren, wies sie ihn an, dürfe es jedoch niemals öffnen, unter gar keinen
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