Die Tochter des Samurai: Roman (German Edition)
Umständen.
Die Riesenschildkröte brachte ihn ans Meeresufer zurück. Doch als er dort ankam, sah nichts mehr aus wie vorher. In seinem Dorf gab es neue Häuser, eine neue Brücke über den Fluss, und der Tempel auf dem Hügel sowie der Schrein an dessen Fuß waren erneuert worden. Er konnte das Haus seiner Eltern nicht finden, und auch niemanden, den er kannte. Schließlich begegnete er einer gebeugten alten Frau. Sie dachte lange nach. »Urashima«, sagte sie bedächtig. »Als ich ein kleines Mädchen war, sprachen die Menschen von einem Jungen dieses Namens, der im Meer verschwunden war und nie zurückkehrte. Aber das war vor vielen Generationen, lange bevor ich geboren wurde.« Allmählich dämmerte Urashima die schreckliche Wahrheit. Nicht drei Tage, sondern dreihundert Jahre hatte er unter den Wellen verbracht.
Entsetzt beschloss er, sofort zur Tochter des Drachenkönigs zurückzukehren. Er rannte ans Meer, stand vor den grauen, aufgewühlten Wogen und rief nach der Riesenschildkröte, doch nur das Krachen der Wellen antwortete ihm. Da setzte er sich hin und weinte. Dann dachte er an das Kästlein, das die Prinzessin ihm gegeben hatte. Das war ihm als Einziges geblieben. Vielleicht enthielt es einen Hinweis. In seiner Verzweiflung vergaß er die Warnung der Prinzessin und öffnete das Kästlein.
Dünner Rauch stieg daraus hervor. Urashimas Haar wurde weiß, sein Körper wurde alt und gebeugt und begann sich aufzulösen. Nur ein wenig Staub blieb übrig, den der Wind mit sich trug. Das Kästlein hatte die dreihundert Jahre enthalten.
Nobu hob den Kopf. Vielleicht war er genau das – Urashima. Vielleicht waren sie es alle. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie sich alle in Staub aufgelöst hätten, statt zu entdecken, was aus dem Leben geworden war, das sie gekannt hatten. Aber nein. Seine Familie war immer noch da, in genügender Anzahl. Sie würden zusammen am Familiengrab beten. Das wäre ein Anfang auf dem Weg, Frieden zu finden.
»Unsere liebe Mutter war noch jung«, sagte Yasu. »Aber die Haare von Bashos Mutter waren weiß wie Schnee geworden.«
Mit zitternder Stimme murmelte Vater das Haiku:
te ni toraba kien
Nähme ich es in die Hand, würde es schmelzen
namida zo atsuki
unter der Glut meiner Tränen.
aki no shimo
Herbstfrost.
19
Taka lugte hinter den duftigen Spitzen um das üppige Dekolleté ihrer Mutter hervor, als sie in ihrer Kutsche über die Ginza ratterten. Von den Ahorn- und Kirschbäumen, die der Straße Schönheit verliehen hatten, waren fast alle Blätter gefallen, und Takas Hoffnungen waren zusammen mit ihnen verdorrt.
Ihr Leben war ein einziges Durcheinander. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so verwirrt gewesen zu sein. Seufzend lehnte sie sich gegen die Polsterung, zog den Schal enger um sich, während der Kutscher mit den Zügeln schnalzte und der Pferdeknecht vorauslief, um ihnen auf der breiten, gepflasterten Promenade einen Weg durch die Rikschas, Kutschen und Pferdeomnibusse zu bahnen. Damen mit karierten Wolltüchern um ihre Kimonos, andere in Kleidern mit ausladenden Turnüren und Männer in Inverness-Mänteln und dicken Schals oder mit Bowlerhüten auf dem Kopf zu ihren langen, breitärmeligen Haori-Jacken und flatternden Hakama-Hosen flanierten auf den Bürgersteigen.
»Schau sie dir an, spazieren hier herum, als hätten sie nicht die geringsten Sorgen.« Fujino packte Takas Handgelenk und brüllte fast, um das Stimmengewirr und das Klappern der Räder und Hufe zu übertönen. Der Stufenrock ihres modischen Tageskleides raschelte bei jedem Holpern der Kutsche. »Das Leben geht weiter, als wäre nichts passiert.«
Taka befreite ihre Hand. Ihr war nicht bewusst, dass etwas passiert war. Ihre Mutter benahm sich heute eigenartig und hatte ein Funkeln in den Augen, als plante sie irgendetwas. Wieder seufzte Taka. Bestimmt würde sie es bald erfahren.
Sie sank tiefer in ihre Ecke, während sie zwischen honigfarbenen, mit Portiken, Balkonen und Kolonnaden geschmückten Geschäftsfassaden hindurchfuhren. Die Straße veränderte sich in einem erstaunlichen Tempo. Alle waren sich einig, dass es in ganz Japan nichts Vergleichbares gebe, vielleicht sogar auf der ganzen Welt. Selbst in der kurzen Zeit seit ihrem letzten Besuch waren neue Gebäude wie Pilze aus dem Boden geschossen. Für gewöhnlich konnte Taka, ganz gleich, wie oft sie die Ginza besuchten oder wie trostlos ihr das Leben erschien, nicht anders, als mit offenem Mund über den aufregenden Anblick zu
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