Die Tochter des Schmieds
nur manchmal
fällt er einfach neben ihr ins Bett und fängt alsbald an zu schnarchen.
Nach einundzwanzig Tagen bringen sie ihn zum Bahnhof, seine Mutter kann die Tränen nicht zurückhalten, auch Gül weint, einerseits,
weil sie jetzt wieder allein sein und niemand ihr zuhören wird, wie Fuat es zumindest die ersten Abende getan hat, andererseits,
weil es von ihr erwartet wird. Arzu bleibt nicht hinter den beiden zurück und klagt lauthals, daß ihr Bruder wieder in die
Fremde muß. Auch Güls Großmutter Zeliha ist dabei, und ohne zu wissen, ob ihr jemand zuhört, sagt sie:
– Was sollen die Tränen, ich denke, der Junge hat zugenommen? Er läßt es sich dort gutgehen, jeden Tag essen sie Kebab und
Baklava, deswegen muß man doch nicht weinen.
Suzan schüttelt den Kopf und sieht die alte Frau mißbilligend an. Auf dem Nachhauseweg legt sie einen Arm um Gül.
– Es dauert nicht mehr lange. Die Hälfte habt ihr doch schon geschafft.
– Dreihundertvierundfünfzig Tage, sagt Gül, die sich vorstellt, daß sich ihr Leben ändern wird, wenn ihr Mann wieder daheim
ist.
– Ach, was sind schon dreihundertfünfzig Tage? rundet Suzan ab. Habe ich dir die Geschichte von Murats Kamerad erzählt? Man
könnte ein Buch über diesen Mann schreiben. Mesut, er war verliebt in diese Frau aus seinem Dorf, der Ärmste, verliebt wie
Mecnun in Leyla, wie Romeo in Julia, er hatte sich |243| verliebt, als würde er von einem Felsen erschlagen werden, und ihr Vater versprach, sie ihm zu geben, wenn er seinen Wehrdienst
geleistet hätte. Schweren Herzens ging Mesut zum Militär. Dort kam ihm dann zu Ohren, daß sie drauf und dran war, einen anderen
zu heiraten. Also haute er ab, reiste in sein Dorf, um dort festzustellen, daß nichts dran war an dem Gerücht. Als er zurückkam,
brummten sie ihm noch zwei zusätzliche Monate auf, weil er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte. Fast ein halbes Jahr
hielt er es aus, doch die Sehnsucht fraß ihn auf und spuckte ihn aus, jeden Morgen spuckte die Sehnsucht ihn wieder aus, und
jeden Tag wurde er kleiner, und jede Nacht wurde die Sehnsucht größer. Er konnte sich nicht mehr wehren, er mußte sie sehen.
Also reiste er drei Tage in sein Dorf, sah sie ein paar Stunden in der Scheune und reiste wieder ab. Dieses Mal bekam er vier
zusätzliche Monate aufgebrummt. Und wieder hörte er, daß sie einen anderen heiraten wollte. Er brauchte Gewißheit, und der
Brief ging unterwegs verloren oder was, auf jeden Fall riß er wieder aus … Du verstehst. Dreieinhalb Jahre war er schon beim
Militär, als Murat ihn kennenlernte. Und hatte noch hundertzwanzig Tage vor sich.
Als Suzan nicht weiterredet, fragt Gül:
– Und?
– Was soll ich dir sagen? Das hier ist kein Märchen, wer kann schon vier Jahre warten? Sie hätte es vielleicht sogar gekonnt,
wer weiß? Ihr Vater gab sie einem anderen, einem, der mehr bei Verstand war als Mesut, wie er sagte. Ja, so dreht sich die
Welt, meine Liebe, niemand achtet auf deine Tränen.
An den kalten Morgenden, wenn er vor der Arbeit seine Tochter besucht, an Sonntagabenden, in den Pausen zwischen zwei Vorstellungen
im Kino, wenn Sibel in ihrer Mittagspause in die Schmiede kommt, zu vielen Gelegenheiten greift der Schmied in diesem Winter
in seine Westentasche und holte einen fleckigen Umschlag hervor. Diese Angewohnheit wird er beibehalten, all die Jahre, in
denen Melike auf die Oberschule geht, und auch später, wenn sie studiert.
|244| – Lies doch mal vor, sagt er, setzt sich, stützt seine Ellenbogen auf die Knie, senkt den Kopf und hört aufmerksam zu.
Manchmal formt er mit den Lippen die Worte, weil er den Brief fast auswendig kann. Manchmal hat er Tränen in den Augen, wenn
er am Ende den Kopf wieder hebt.
– Ach, Gül, komm, lies mir doch bitte noch mal den Brief deiner Schwester vor.
– Ach, Sibel, ich habe schon vergessen, was Melike geschrieben hatte, kannst du es mir noch mal vorlesen?
An diesen Wintermorgenden, an denen ihr Vater zum fünfzehnten Mal den gleichen Brief herausholt und zum fünfzehnten Mal mit
der gleichen Andacht lauscht, wünscht Gül sich, daß sie wenigstens die Grundschule beendet hätte, sie wünscht sich, ein Abschlußzeugnis
zu haben.
Damals wußte sie zu wenig vom Leben. Jetzt, wo sie Bücher liest und ihr Vater meistens zu ihr kommt, um sich die Briefe vorlesen
zu lassen, jetzt, wo Melike weg ist und wahrscheinlich bald schon Lehrerin sein wird, jetzt
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