Die Tochter des Schmieds
möchte sie, daß ihr diese Türen
nicht verschlossen bleiben. Sie möchte ein Zeugnis.
Einige Wochen nachdem sie Fuat zum Bahnhof gebracht haben, ist Zuckerfest, das Ende der Fastenzeit. Von morgens bis abends
kommen Verwandte und Freunde zu kurzen Besuchen in das Haus von Güls Schwiegereltern. An solchen Tagen will man seinen Gästen
etwas Besonderes bieten, und beim Kutscher Faruk gibt es Schokolade und ein Gläschen Likör. Jedes Mal, wenn Gäste kommen,
gießt Gül Likör ein und geht mit einem Tablett voller Gläser in der einen Hand und einer Kristallschale mit in Stanniolpapier
eingewickelten Schokoladenkugeln in der anderen Hand ins Wohnzimmer. Männer vor Frauen, Alte vor Jungen, und wer ablehnt,
wird noch mal aufgefordert, sich zu bedienen. Und noch mal. Und noch mal von der Schwiegermutter. Die Schokolade nehmen die
meisten. Wenn sie sie nicht essen, lassen sie die Kugel in der Tasche verschwinden. Doch den Likör lehnen viele ab. |245| Für die meisten wird es ein langer Tag mit vielen Besuchen werden. Nur die Alten wie Güls Schwiegereltern können am ersten
Tag des Zuckerfestes zu Hause sitzen bleiben und warten, daß man ihnen mit Besuchen Respekt zollt.
Berrin hat reichlich Schokolade und drei Flaschen Sauerkirschlikör gekauft. Sie möchte nicht wissen, was die Leute reden würden,
wenn die Gäste am Vormittag etwas anderes bekämen als die Gäste am Nachmittag. Es gibt nur sechs Likörgläser, und Gül will
die abgelehnten Gläser nicht offen herumstehen lassen, bis die nächsten Gäste kommen. Es könnten Ameisen hineinkrabbeln oder
Flusen reinfallen. Bis zur Mittagszeit kippt sie den Inhalt der Gläser vorsichtig in die Flasche zurück, aber schließlich
wird ihr das zu mühselig, und es sind noch zwei volle Flaschen da. Also trinkt sie die Gläser einfach aus und spült sie dann.
So muß sie auch nicht immer wieder die klebrigen Fäden abwischen, die außen an der Flasche herunterlaufen, weil beim Zurückgießen
immer etwas danebengeht.
Der Likör ist süß, doch nicht so süß wie die Schokolade, also geht Gül bald dazu über, nach jedem Gläschen auch noch ein Stück
Schokolade zu essen. Berrin sitzt im Wohnzimmer und redet mit den Gästen, sie weiß nicht, was Gül in der Küche macht. Solange
ihre Schwiegertochter bei jedem neuen Besuch mit einem Tablett und der Kristallschale herauskommt, ist alles in Ordnung.
Gül hat noch nie vorher in ihrem Leben Alkohol getrunken. Sie sieht bei Fuat und anderen, was der Alkohol mit einem machen
kann, und davor hat sie Angst. Wein und Bier und Rakı, das ist Alkohol, doch das, was sie gerade trinkt, ist etwas, das man
seinen Gästen sogar zum religiösen Zuckerfest anbieten kann, ein süßes Getränk mit einem betörenden Duft und von einem dunklen
Rot wie Schneewittchens Lippen. Gül trinkt es ja auch nur aus Bequemlichkeit, weil sie die winzigen Gläschen nicht zurück
in die Flasche kippen möchte. Und die Schokolade schmeckt mit jedem Gläschen besser, so steckt sie sich auch schon mal zwei
Kugeln auf einmal in den Mund.
|246| Nachmittags wird nicht mehr so viel Likör abgelehnt, doch bis dahin hat Gül schon acht oder neun Gläser getrunken, oder elf,
wer soll so etwas schon genau zählen. Zuerst wird ihr etwas schwindelig, und gleichzeitig fühlt es sich leicht an im Kopf.
Es fällt ihr nicht schwer, weiter Schokolade und Likör anzubieten, ihre Bewegungen sind noch koordiniert, als ihr schlecht
wird. Die erste Minute versucht sie, dieses Gefühl zu unterdrücken, doch sie hat einen sauren Geschmack im Mund. Sie versucht
ihn hinunterzuschlucken, aber in Sekundenschnelle sammelt sich wieder Speichel in ihrer Mundhöhle, Speichel, von dem sie glaubt,
er müsse wie ranzige Butter riechen. Mit einem Gläschen süßem Likör versucht sie, den Geschmack runterzuspülen. Als das Getränk
unten ankommt, fühlt sie geradezu, wie ihr Mageninhalt nach oben wandert.
Sie rennt los, aber schafft es nicht bis zum Klo. Im Hof übergibt sie sich an einer Wand. Ihr Magen zieht sich schmerzhaft
zusammen, der warme Schwall schießt ihr durch die Kehle. Es fühlt sich an, als würde sie ihre Rippen mit auskotzen. In ihren
Augen sind Tränen, und vergeblich bemüht sie sich, das rhythmische Zucken zu unterdrücken, das auch nicht aufhört, als ihr
Magen schon leer ist. Eine dicke braune Flüssigkeit dampft in der Kälte. Gül sieht, wie eine ihrer Tränen hineintropft.
– Was ist passiert?
Gül
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