Die Tochter des Schmieds
wird. Ist das klar? Sonst kommt sie hierher, und du mußt wieder zurück.
– Ja, aber …
– Aber?
– Versprochen, es wird nichts mehr passieren, sagt Gül, obwohl sie weiß, daß sie nicht für Melike sprechen kann.
Noch am selben Tag wird ein Schloß an Arzus Truhe angebracht, die andere bleibt weiterhin unverschlossen. Und Gül überlegt,
daß mehr Goldschmuck darin geblieben wäre, wenn diese Truhe nach dem Tod ihrer Mutter auch ein Schloß gehabt hätte. Sie haben
nur einen Ball genommen und ihn wieder zurückgetan, aber ihre Großmutter hat damals die Armreife aus der Truhe eingesteckt.
Gesehen hat Gül das nicht, aber sie ist sich sicher. Wohin sollen die Armreife sonst verschwunden sein.
In diesem Sommer spielen sie nicht mehr mit dem Ball, aber schon im nächsten Jahr wird Melike einen Weg gefunden haben, um
an diesen wertvollen Plastikball zu kommen. Möglicherweise nur, um sich zu beweisen, daß sie sich nichts verbieten läßt.
– Und wie ist es, verheiratet zu sein, fragt Melike eine Woche später, während sie sich im Kleid ihrer Mutter vor dem Spiegel
bewundert.
– Es ist schön, sagt Gül ziemlich beiläufig.
– Sibel, gib mir mal die Schuhe, sagt Melike und fragt dann: Wie ist Onkel Fuat denn so?
Sibel und sie nennen ihn immer noch Onkel Fuat, und daran wird sich nie etwas ändern.
– Wie soll er sein?
– Schlägt er dich?
Melike zieht die Schuhe an. Lange waren sie ihr zu groß, aber jetzt passen sie fast schon. Zufrieden lächelnd, dreht sie sich
noch mal vor dem Spiegel mit den blinden Flecken.
– Nein, wieso sollte er mich schlagen?
– Bist du verliebt?
– Ich glaube schon.
|236| – Wieso kommt er dich nicht besuchen?
– Weil man beim Militär im ersten Jahr nicht so leicht Urlaub bekommt und weil der Weg so weit ist. Er wird im Herbst kommen.
– Im Herbst werde ich nicht mehr hier sein.
– So Gott will.
– Im Herbst werde ich auf dem Internat sein. Und nur am Wochenende heimkommen.
Sibel hat sich auch ein Kleid angezogen. Gül hockt neben der Truhe und fährt mit der Hand über die gehäkelten Spitzendecken.
– Ich möchte auch auf das Internat, sagt Sibel.
– Du kannst nächstes Jahr nachkommen. Du schaffst das schon, du bist ja gut in der Schule, sagt Melike.
– Du doch auch, sagt Sibel.
Gül zieht sich ebenfalls ein Kleid an, es sind genau drei Kleider in der Truhe, dazu zwei Paar Schuhe und zwei Strickjacken,
zwei Decken aus Schafwolle und das Hochzeitskleid. Das haben sie früher immer als erstes angezogen, der Reihe nach, doch in
diesem Sommer findet das Hochzeitskleid keine Beachtung mehr.
Alle drei drängeln sich nun vor dem Spiegel, alle drei in Kleidern, die ihnen zu groß sind, nur Gül ist nahe daran, ihres
auszufüllen. Davon hätte ich gerne ein Foto gehabt, wird Gül später sagen, wenn sie sich an diesen Tag zurückerinnert. Wir
drei in den Kleidern unserer Mutter vor dem großen Spiegel im Flur des Sommerhauses. Wir drei, wir müssen glücklich gewesen
sein.
Melike besteht die Aufnahmeprüfungen für die staatliche Oberschule und zieht ins Internat, in eine Stadt, die fast zwei Zugstunden
entfernt ist. Wenn sie nach Hause kommt, ist sie immer sehr reizbar und streitet sich fast täglich mit ihrer Mutter. Doch
Sibel erzählt sie begeistert von ihren neuen Freundinnen, vom Schlafsaal, von dem Essen, dem einzigen, was ihr nicht gefällt,
und von den Lehrern. Sibel hört aufmerksam |237| zu. Wäre Melike nicht auf dem Internat, würde sie die Prüfungen vielleicht nicht bestehen wollen, aus Angst, sich in einer
fremden Umgebung nicht zurechtzufinden.
In ihrem ersten Jahr im Internat fängt Melike an zu rauchen.
– Probier auch mal, sagt sie zu Sibel und läßt sie ziehen.
Sibel muß husten, ihr wird schwindelig, und sie hockt sich hin, in der engen Gasse, in der sie gerade stehen.
– Vater würde dich umbringen, sagt sie, als der Hustenanfall abgeklungen ist.
– Untersteh dich, ein Wort zu sagen. Dann verrate ich, daß du auch geraucht hast.
– Ich habe doch nur einmal gezogen.
– Das kannst du dann Papa erzählen.
So rauchen die Schwestern in Zukunft öfter gemeinsam, doch schon bald kommt Melike nicht mehr jedes Wochenende, weil die Zugfahrt
so teuer ist, wie sie sagt, und das bißchen Geld, was der Vater ihr gibt, gerade mal für Schokolade und Zigaretten reicht.
Das sagt sie nicht.
Manchmal kommt Melike völlig übermüdet heim, weil sie im Schlafsaal wenig Schlaf gefunden hat. Das
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