Die Tochter des Schmieds
hat nichts damit zu tun,
daß sie, nachdem das Licht gelöscht wurde, noch reden und heimlich rauchen würde. Zwar gibt es vier, fünf Mädchen, die sich
nachts ganz hinten im Saal treffen, rauchen, flüstern und ihr Lachen mit fest aufeinandergepreßten Lippen unterdrücken, um
nicht erwischt zu werden, doch Melike gehört nicht zu dieser Gruppe.
Tagsüber kann sie nicht lernen, da ist es ihr zu laut, sie kann sich nicht konzentrieren und läßt sich schnell ablenken. Im
Schlafsaal darf nach zehn kein Licht mehr gemacht werden, also steht Melike vor den Klassenarbeiten nachts auf, nimmt sich
ihre Decke und ihr Buch und geht damit auf die Toilette. Dort sitzt sie dann in ihre Decke gehüllt im Vorraum und lernt Texte
auswendig, Texte aus dem Chemiebuch, dem Geschichtsbuch, dem Physikbuch, dem Türkischbuch. Sie lernt die Texte, wie sie es
seit langem tut, und noch als erwachsene |238| Frau werden ihr auf öffentlichen Toiletten Bruchstücke von diesen Texten einfallen, und sie wird immer noch wissen, an welcher
Stelle im Satz man weiterblättern muß.
Auf den Toiletten ist es kalt, und Melike beeilt sich immer, weil sie wieder in den warmen Schlafsaal will. Doch manchmal
sitzt sie da, bis ihre Finger so steif sind, daß sie kaum mehr umblättern kann.
Wenn Melike heimkommt, passiert es mehr als einmal, daß sie eine alte Bluse oder einen alten, zerknitterten Pullover aus ihrer
Tasche zieht, vielleicht hat der Pullover schon ein Loch am Ellenbogen, vielleicht fehlen der Bluse zwei Knöpfe, und sie sagt
zu Sibel:
– Möchtest du das hier? und sie hält das Kleidungsstück hoch.
– Ja, sagt Sibel immer, gerne.
Und sie nimmt die Sachen, näht Knöpfe an, flickt, stopft oder zieht einen neuen Gummizug ein, und sonntags, wenn Melike ihre
Tasche wieder packt, sieht sie ihre alten Sachen, die nun wie neu aussehen, und sagt:
– Das ist ja noch besser in Schuß, als ich dachte. Ich nehms noch mal mit, du kannst es nächstes Mal behalten.
– Aber du hast sie mir … du hast sie mir doch geschenkt.
– Jaja, sie gehören dir, ich will sie nur noch mal mitnehmen.
Oft genug sieht Sibel die Kleidungsstücke erst dann wieder, wenn sie wirklich nicht mehr zu retten sind. Und trotzdem bessert
sie die Sachen ihrer Schwester immer wieder aus, weil sie diese Geschenke einfach nicht ablehnen kann. Doch manchmal versteckt
Sibel ein Stück einfach, nachdem sie es ausgebessert hat, und zieht es erst an, wenn Melike weg ist.
Was Ordnung und Sorgfalt angeht, kommt Sibel ein wenig nach Gül. Sie macht das Frühstück, spielt mit Nalan und Emin, wäscht
am Wochenende, und nie hört jemand sie klagen. Was Gül kann, kann sie auch. Und weil sie jetzt weniger |239| Zeit hat, schätzt sie die Stunden, in denen sie ungestört malen kann, um so mehr.
Eines Tages bringt Timur ihr Wasserfarben mit, und als Arzu das sieht, sagt sie:
– Was soll das Kind denn damit? Sie ist doch keine Malerin, oder was. Seit wann haben wir für so etwas Geld?
Doch außer Sibel gibt es nur drei Kinder in der Klasse, die Wasserfarben haben, und als eine Nachbarin Arzu fragt, ob es denn
stimmt, daß Sibel jetzt Wasserfarben mit in die Schule nimmt, antwortet sie stolz:
– Ja, die hat ihr Vater ihr gekauft. Sie kann so schön malen, da kann man sich ruhig mal etwas Besonderes leisten.
Als Gül wieder im Haus ihrer Schwiegereltern ist, dauert es keine Woche, bis sie sich mit ihrer Schwiegermutter in die Haare
kriegt, weil sie beim Waschen angeblich einen Socken verbummelt hat, einen guten Wollsocken und keinen aus dem Gefängnis.
Gül ist sich sicher, daß der Socken vorher schon gefehlt hat, und sagt das auch, aber ihre Schwiegermutter brüllt sie an,
daß ohne sie alles besser gelaufen sei.
Was nicht sein kann, da ist eine dicke Staubschicht auf dem Radio gewesen, das die Schwiegereltern besitzen, wie mittlerweile
viele andere auch. Die Gläser im Schrank waren fleckig, im Wandschrank herrschte Unordnung, der Läufer war offensichtlich
den ganzen Sommer nicht ausgeklopft worden, und im Keller hat Gül eine Unterhose gefunden, die bestimmt nicht dorthin gehörte.
Doch trotz des Streites ist es für Gül nun besser im Elternhaus ihres Mannes, bei der Wäsche und beim Abwasch hilft die eine
ihrer Schwägerinnen, die andere leiht sich regelmäßig das Bügeleisen aus, überhaupt scheint es, als würden sie ihr weniger
Arbeit aufladen. Nicht einmal mehr Berrin ruft ungeduldig Güls Namen quer über die
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