Die Tochter des Schmieds
genossen, und nie hat es ihm leid getan um das viele Geld, doch
nun war er schon seit Jahren nicht mehr in Istanbul. Ich bin nicht mehr so jung, denkt er, mir reicht es mittlerweile, hierzusein,
Kinder um mich herum, die Kühe, die Arbeit und die Lieder aus dem Radio und nicht mehr aus dem Mund schöner Frauen in atemberaubenden
Kleidern. Das Radio hat mir die Lieder gegeben und die Frauen genommen. Es hat ihm das Stadion genommen, in dem er ein-, zweimal
im Jahr war, und hat ihm die wöchentlichen Übertragungen der Spiele gebracht.
Dieser Sommer wird ihm in Erinnerung bleiben als der Sommer, in dem die ersten um Melikes Hand anhalten und sie über einen
schmächtigen Burschen witzelt:
– Was soll ich denn mit dem? Der fliegt doch durchs halbe Zimmer, wenn ich ihm eine Ohrfeige verpasse.
Und Timur lacht und weiß sofort, daß er mit seinem Gehilfen und ein, zwei Bekannten am Schmiedefeuer sitzen wird und von seiner
Tochter erzählen, die sich lustig macht über so halbe Kerle. Stolz wird mitschwingen in seiner Stimme und auch Besorgnis über
dieses Kind, das es schwer haben wird im Leben.
Die Worte werden weitergetragen werden ohne den Stolz, ohne die Besorgnis, aber mit der Klatschsucht der Menschen, und der
junge, schmächtige Mann wird davon hören und sich einen ganzen Winter unendlich klein und einsam fühlen. Er wird Liegestütze
machen, heimlich, es wird ihm peinlich sein, sich so um seinen dünnen Körper zu kümmern, doch er wird |275| genauso heimlich stolz sein, wenn seine Brust im Laufe des Winters ein wenig an Umfang gewinnt. Für andere vielleicht kaum
sichtbar, aber ihm wird es vorkommen wie ein Anfang. Später wird er eine füllige Frau aus einem Dorf in der Nähe heiraten,
und in der Hochzeitsnacht und den Nächten danach wird er das Gefühl haben, daß er sie bezwingt. Sie werden Kinder bekommen,
nach Deutschland ziehen, die Frau wird weiter zunehmen, und eines Tages, fünfzehn Jahre nachdem er um Melikes Hand angehalten
hat, wird er mit seiner Frau in Istanbul sein, in Taksim, und er wird auf der Straße Melike sehen, die ihn nicht erkennen
wird. Er wird sich klein fühlen, klein neben Melikes Mann, der fast zwei Meter groß ist, und noch viel kleiner neben seiner
eigenen Frau, deren schwerfälliger Gang ihn manchmal an eine trächtige Kuh erinnert. Und weitere zehn Jahre später wird Ceyda
auf einer Party seinen Sohn kennenlernen, und der wird ihr in alkoholisiertem Überschwang erzählen, daß er schlanke Frauen
bevorzugt. Schlank, wird er sagen, ganz schlank, ich muß es richtig knirschen hören unter mir.
Die Worte aus Büchern finden in diesem Herbst den Weg in Güls Kopf, doch es sind nicht mehr die Worte aus Romanen, es sind
jetzt die Worte aus den Schulbüchern für das Fernstudium. Die Äpfel sind geerntet, die Menschen aus Adana zurück in ihre Stadt
gezogen, die Sommerhäuser verlassen, Ceyda krabbelt hierhin und dorthin, scheint aber keine Lust zu haben, gehen zu lernen.
Dafür kann sie schon einige Worte, was wohl auch damit zu tun hat, daß Gül den ganzen Tag mit ihr spricht. Ihre abendlichen,
ohnehin etwas einseitigen Gespräche mit Fuat werden dafür seltener. Entweder hat sie viel geredet, und er hat zugehört, oder
er hatte zuviel getrunken, dann hat er geredet. Nun sitzt Gül abends häufig vor ihren Büchern und lernt, zum ersten Mal im
Schein einer elektrischen Glühbirne. Fuat geht aus, hockt mit seinen Brüdern zusammen oder trinkt behaglich seinen Rakı vor
dem Radio, wenn sein Vater nicht da ist. Es fällt kaum auf, daß er |276| die Hörspiele nicht verfolgt, sondern anderen Gedanken nachhängt.
Die Aprikosen-, Apfel-, Maulbeerbäume verlieren ihre Blätter, der Wind pfeift durch die Ritzen, aber noch ohne Kälte ins Haus
zu blasen, die Jungen, die mit den Käfern geübt haben, lassen nun Drachen steigen. Emin wiederholt die zweite Klasse, Arzu
ist froh, daß nicht mehr so viele Menschen um sie herum sind und sie ihre Ruhe hat, Suzan bereitet sich innerlich auf einen
weiteren Winter ohne ihren Mann vor, und Fuat macht Ausnahmen und spielt um kleinere Beträge. Es sind wirklich nur Ausnahmen,
weiterhin mehrt sich das Geld in der Pappschachtel, soweit Gül das beurteilen kann. Wenn Fuat mal gewinnt, schütteln seine
Mitspieler den Kopf und sagen:
– Da verschwindet das Geld wieder in Fuats Taschen, und wir werden es nie wiedersehen. Fuat, du kannst nicht einmal im Monat
spielen, die Kohle einsacken
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