Die Tochter des Schmieds
und dann erst in vier Wochen wieder mitmachen. Geld muß fließen.
– Ja, sagt er dann, ja, es muß in meine Taschen fließen. Ihr werdet euch noch wundern.
– Was denn, was denn, fragt ihn Yılmaz, willst du dir etwa mit unserem Geld einen Cadillac kaufen?
– Ihr werdet euch noch wundern, wiederholt Fuat.
Das sagt er seinen Freunden häufig in diesem Herbst. Ihr werdet euch noch wundern.
Niemand wundert sich über den neuen Spiegel, den er für seinen Laden kauft, niemand wundert sich über den Gehilfen, einen
elfjährigen Jungen, der den Laden fegt, putzt, die Spiegel poliert, die Handtücher reicht und die Seife. Ein Junge, der bis
zum Frühling in der Lage sein wird, die Kunden perfekt zu rasieren, lange bevor ihm selbst der erste zarte Flaum sprießt.
Ein Junge, der kein Geld mit heimbringt, der aber einen Beruf erlernen darf.
Hülya verbringt sehr viel Zeit allein, seit Yücel gestorben ist. Früher hat sie Timur besucht, sie lief in der Nachbarschaft
herum, saß auf einem Schemel auf der Straße, redete mit den |277| Passanten. Jeder kannte ihren ungelenken Gang, und alle hatten sich längst an ihr Schielen gewöhnt. Doch seitdem Yücel tot
ist, zieht sie sich zurück. Obwohl sie schon seit Jahren geschieden waren und sich so gut wie nie gesehen haben, soweit Gül
weiß. Er muß ein guter Mann gewesen sein, überlegt sie manchmal, er war geduldig, und er hat Tante Hülya geheiratet, eine
schielende Frau, die bei jedem Schritt ihre Hüfte vorschiebt und die nicht mal besonders gut kochen kann. Er muß ein guter
Mann gewesen sein, aber ihre Großmutter erwähnt ihn nie und verzieht das Gesicht, sobald sein Name fällt.
In diesem Herbst besucht Gül häufiger ihre Großmutter, aber nur um mit ihrer Tante in der Küche zu sitzen. Es gibt Tage, da
redet Hülya, ohne sich darum zu kümmern, ob Gül zuhört oder nicht, sie fängt irgendwo an, vielleicht damit, daß sie sich kaum
an ihren Vater erinnern kann, dem sie doch so viel schuldig ist, und dann fährt sie fort mit einer Erinnerung daran, wie Timur
sie mal auf seinem Rücken über den Bach getragen hat, weil sie Angst vor dem Wasser hatte, da muß sie noch klein gewesen sein,
so klein wie die Kleine von der Nachbarin, aber schon viel größer als Ceyda, und in dem Bach, da hat sie später mal ein Geldstück
verloren, vergangene Tage, sie kann sich nicht erinnern, wieviel es war, und wieviel Geld ihre Mutter verdiente, indem sie
Sachen verkaufte, Schmuck, getrockneten Traubensaft, Walnüsse, was für eine geschickte Kauffrau sie doch ist, und ihr Bruder
hat nie gelernt, sein Geld zusammenzuhalten.
Hülya redet nahezu ununterbrochen, springt von einem Thema zum nächsten, weil sie kaum unter Leute geht. Sie ist noch klar
im Kopf, hat ein großes Redebedürfnis, aber sie wechselt jedes Mal das Thema, wenn Gül die Sprache auf Onkel Yücel bringen
will.
– Ach, vergangene Tage, sagt Hülya dann, was weiß ich. Möge er in Frieden ruhen.
Und damit ist alles gesagt. Doch es ist nicht die Neugier, die Gül zu ihrer Tante treibt, und so geht sie weiter regelmäßig |278| dorthin. Nie wird Gül erfahren, was zwischen Onkel Yücel und Tante Hülya vorgefallen ist, nie wird sie wissen, warum sie sich
getrennt haben. Lange Zeit wird es sie stören. Gül wird feststellen, daß völlig fremde Menschen auf sie zukommen und ihr ihr
ganzes Leben anvertrauen. Nur Tante Hülya wird ihr Geheimnis nicht teilen, zumindest nicht mit ihr.
Wenn sie in Deutschland in der Fabrik im Akkord näht, wird neben ihr eine sehr junge Türkin sitzen, die jeden Tag auf der
Arbeit weint. Nach einer Woche wird diese junge Frau, fast noch ein Mädchen, zu Gül kommen, die schon Ende Zwanzig sein wird,
und sie wird sagen:
– Was bist du nur für ein herzloser Mensch. Jeden Tag sitze ich neben dir und weine, und du hast nicht ein einziges Mal gefragt,
was ich habe.
Gül wird schuldbewußt schweigen, doch die junge Frau wird sagen:
– Ich möchte dir alles erzählen.
Und sie wird anfangen bei ihrer Kindheit, sie wird berichten, was sie mit ihrer Freundin beim Kühehüten gemacht hat, wird
erzählen von den Soldaten, von den anderen Männern, von ihrem ersten Ehemann, der dreimal so alt war wie sie, von dem zweiten,
vom Schwager des zweiten, von dem Gerede, von der neuen Stadt und dem neuen Mann und dem neuen Land, und Gül wird versuchen,
ihr Staunen zu verbergen, aber ihre Tränen wird sie nicht zurückhalten können, so daß sie
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